In der städtischen Bibliothek

Text

von  Saudade

Vorab, bei uns gibt es viele Filialen und jede hat andere Schwerpunkte, je nachdem, was in der Gegend gerne ausgeborgt wird. Hier wird über meine Filiale geschrieben, wo der Schwerpunkt auf Frauenromane, Kinderbücher und Psychologie gelegt wird.


Schon beim Eingang kommt der Lärm entgegen. Links die Kinderbuchecke. Kleine Kinder sitzen im Halbkreis am Boden, schreien, lachen und kreischen. Einige klatschen begeistert ihre kleinen Hände zusammen. Schüchterne Kinder sitzen am Schoß der Betreuerinnen und mitgekommenen Müttern. Vor ihnen, auf einem Podest, liest eine Dame aus einem Kinderbuch vor. Sie hat sich verkleidet und hat einen Hexenhut auf, ihre Wangen sind rot bemalt, eine falsche Nase mit einer Warze darauf thront in ihrem Gesicht. 

In der Frauenbücherabteilung bunte Buchrücken, eindrucksvolle Titel, die Liebe in England und sonstwo versprechen. Denen gegenüber Bücher in Großschrift, daneben Goethe und Schiller Biografien. Weiter hinten im Raum sitzen Frauen auf einem roten Sofa, sie tragen bunte und schwarze Brillen, schmökern in der Psychologieabteilung. 

Bei den drei Computern sitzen junge Leute und zwei sind im Facebook, einer sucht eine Stelle, schreibt seinen Lebenslauf. An einem Tisch sitzt ein Mädchen, es interessiert die Bücher nicht, es sieht in das eigene Telefon. 

Die Belletristik von A bis Z geht an der Mauer entlang über lange Regale. Daneben englischsprachige Bücher. Ein Kind hat sich von der Gruppe weggestohlen und hängt sich an das dritte Regal Bücher über das Universum. Bücher fallen heraus, dem Kind auf den Kopf, es brüllt wie verrückt. Eine Tante nimmt ein Kind vom Schoß und setzt es auf den Stuhl, läuft zu dem brüllenden Kind, beruhigt es, schiebt es wieder zu den anderen Kindern, stellt die herausgefallenen Bücher wieder irgendwie ins Regal.

Der Ausleihecomputer ist defekt. Eine Schlange steht vor einem Pult, dahinter drei Bibliothekare. Einer von ihnen wiederholt jeden Titel laut, bevor er ihn einscannt. "Die Apfelessig - Diät", sagt er, weiter "Die haben Sie doch nicht notwendig", lacht. Die Dame vor dem Pult läuft rosa und rot an, schweigt. 

Neben der Eingangstüre ein Tisch mit Gratisbüchern. Sie sind in Zeitungspapier eingewickelt, eine Überraschung. Ein Mann nimmt sich eines, steckt es in seine Tasche, bevor er hinausgeht. Auf der anderen Seite eine Pinnwand mit Ankündigungen. Darunter liegen Flyer in allen Farben, sowie die Bücherreizeitung der Stadt Wien.

In der Computerabteilung steckt ein junger Mann ein Buch heimlich in seine Tasche und will zur Türe hinaus, da piepst der Diebstahlscanner. Es folgt eine Diskussion. Die Polizei wird nicht gerufen, der Mann geht ohne Buch hinaus, verschwindet im Gedränge.

Inzwischen hat die "Hexe" fertig gelesen, die Kinder müssen auf die Toilette, ein Gewühl und Gewirr. Am Boden liegen Bilderbücher, aufgeschlagen, in einem ist ein Fußabdruck. Eine Bibliothekarin hebt alles feinsäuberlich auf und gibt die Bücher in eine Wühlkiste, mit den Buchrücken nach oben. Sie schüttelt Pölster auf, legt sie auf kleine Kindermöbel zurück und holt einen Besen, kehrt achtlos ausgespuckte Gummibärchen zusammen. 

Die Kindergruppe geht, die Hexe ebenso und jetzt ist es still. 

Einer sieht sich Neuerscheinungen an, ein anderer ist bei den DVDs. 

Die Bibliothekarin stellt zurückgegebene Bücher an ihre Plätze zurück, schiebt einen vollen Wagen vor sich her.

Der Junge, der einen Lebenslauf schrieb, fragt, ob er den ausdrucken darf, die anderen zwei sind längst weg und das Mädchen, das nur in ihr Handy sah, sieht noch immer in ihr Handy.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (05.06.25, 23:44)
Das ist noch ein ziemlich gutes Angebot an Büchern! Wenn ich einmal davon ausgehe, daß eine Stadtteilbücherei in etwa der einer Kleinstadt entspricht, dann muß ich sagen, daß die nächste Stadtbücherei hier - 15.000 Medien - ausschließlich Kinderbücher und Fantasy im Angebot hat. "Etwas anderes geht bei uns nicht", sagte mir die Bibliothekarin.
Ich bin die Reihen durchgegangen und hätte nicht ein Buch lesen mögen ... was ich traurig fand und mich bedenklich gestimmt hat hinsichtlich der aktuellen Lesekultur.

 Saudade meinte dazu am 05.06.25 um 23:47:
Vielleicht gibst du doch eine Chance?

 Graeculus antwortete darauf am 05.06.25 um 23:49:
Kinderbücher? Fantasy? 
Es mag aber andernorts anders stehen mit Angebot und Geschmack. Zudem würde ich es nicht wagen, von Wien anders als mit Hochachtung zu sprechen.

 Graeculus schrieb daraufhin am 05.06.25 um 23:52:
Kinderbücher sind natürlich o.k., aber Fantasy & triviale Liebesromane für Mädchen? Da würde ich noch einen Fluchtversuch unternehmen, selbst wenn Du mich davor festgebunden hättest.

 Saudade äußerte darauf am 05.06.25 um 23:57:
Okay, ich finde immer bei der Belletristik etwas, aber auch ich lasse mich vorher steinigen, bevor ich "Frauenromane" lesen würde. Bei Kinderbüchern sieht es anders aus, Momo ist neu aufgelegt worden und ist entzückend, ich habe es hier stehen und über die "Unendliche Geschichte" lasse ich nichts kommen. Es wäre ein Versuch wert, Graeculus.

 Graeculus ergänzte dazu am 06.06.25 um 00:06:
Von Michael Ende habe ich nie etwas gelesen. Mein letzter Versuch, schon eine Weile her, war Tolkiens "Hobbits"; aber da habe ich mich gefragt, warum ich ein Buch über Gartenzwerge lesen sollte. Da werden einfach keine Anliegen von mir behandelt.

Was ich wohl tue: Kindergeschichten für meine Enkelin schreiben. Es ist schön, beim Vorlesen zu sehen, wie sie sich freut und mitdenkt.
Sicherlich ist das nicht auf dem Niveau Micheal Endes.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:06:
Nachtrag: Um einiges Schlimmer sind die pseudo-psychologischen Ratgeber, die dir stets einreden, dass mit dir etwas nicht stimmt und nur ihr Buch rettet dich vom bösen Geist. Holla, die Waldfee, die verdienen Millionen und behaupten stets: "Ich habe das Buch an einem Wochenende geschrieben." Ja... so liest es sich auch und das Diplom hast Du Pfosten in der Strickschule erworben.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:08:
Tolkiens "Hobbits";
Ich schaffe das auch nicht. Ich weiß, wir sind Banausen, aber es geht einfach nicht.

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:09:
Was mich wirklich beeindruckt, ist der Umstand, daß das Angebot in einer Wiener Stadtteilbibliothek sich so wohltuend von der Bücherei einer hiesigen Kleinstadt abhebt.

Biographien über Klassiker, Bücher über das Universum ... und, nun gut, Computerliteratur. Nicht einmal dies Letztere gibt es hier.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:11:
Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist noch präsent... ich kann, nein, ich schaffe es nicht, a"Berlin Alexanderplatz" zu lesen, obwohl mich das als Juristin interessiert, aber das Berlinerische stört mich im Lesefluss. Dabei mag ich es, wenn Berliner reden.

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:11:
Um einiges Schlimmer sind die pseudo-psychologischen Ratgeber, die dir stets einreden, dass mit dir etwas nicht stimmt und nur ihr Buch rettet dich vom bösen Geist.

Das bringt Geld, ja. "Du hast das Problem - ICH habe die Lösung" ... für 28,99 Euro.

Antwort geändert am 06.06.2025 um 00:11 Uhr

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:13:
Ah, bei uns gibt es alles, auch aus alten Telefonzellen sind Büchertauschbörsen entstanden. Ich geb da oft was rein und hol mir was raus. Kommt auf die Gegend an. Bei mir sind fast nur Konsalik und Frauenromane, aber in anderen Bezirken wurde ich schon fündig.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:14:
Das bringt Geld, ja. "Du hast das Problem - ICH habe die Lösung" ... für 28,99 Euro.
Frauen sind schließlich von der Venus und Männer vom Mars oder so. Grübel. So blöd ist das aber nicht...😂😂😂

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:17:
Da, kannst dir ansehen...!
https://buechereien.wien.gv.at/

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:25:
37 Zweigstellen! Die auf der Startseite zu sehenden Bücher ... na jaaa.

Frauen sind von der Venus (Symbol: Spiegel mit Griff), Männer vom Mars (Symbol: Schild mit Speer) - ich habe davon gehört.

Aber eines muß ich sagen: Hier in Dobel hat ein weltberühmter Schriftsteller gelebt und ist auch hier gestorben sowie begraben. Verkaufte Auflage: 40 Millionen Bücher. Eines davon mit allen möglichen Stars verfilmt und der größte Kinoerfolg der 80er Jahre. Einer der wenigen deutschen Autoren, die in den USA einen sehr großen Erfolg gehabt haben.

Ich werde Dir sehr böse sein (Minimum: vier Wochen), wenn Du mich jetzt nicht fragst, um wen es sich handelt.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:27:
Ich hab geschummelt... Willi Heinrich. Ich gestehe: Ich kenne ihn nicht. Ist das schlimm?

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:35:
Ich zweifle, ob er Deinen Geschmack trifft. Aber "Das willige Fleisch" (--> Steiner - das Eiserne Kreuz) halte ich für einen guten Roman über Krieg und die damit verbundenen moralischen Konflikte. Keine Liebesgeschichte.

Was Dobel angeht, so ist er eh konkurrenzlos. Ansonsten hat hier nur Johann Peter Hebel mal eine Kur gemacht ... im 19. Jhdt., und da dürfte das Kopfkissen längst kalt sein.

Immerhin gibt es Buchautoren im Dorf. Einen davon kennst Du ja flüchtig; der Nämliche und ein ebenfalls schreibender Freund von ihm haben jetzt mit dem Bürgermeister vereinbart, hier Vorträge und Lesungen zu etablieren (zu versuchen).

Gemeindebücherei allerdings: Fehlanzeige.

Antwort geändert am 06.06.2025 um 00:38 Uhr

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 00:38:
Oh je...
Du, das klingt aber interessant. Schreibe ich mir mal für den Sommer auf.

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:50:
Eine Episode aus dem Roman:

Steiner ist ein Unteroffizier, der mit seinem Zug bei einem Rückzug vergessen wird und so hinter die Frontlinie gerät, sich also im Gebiet der Roten Armee befindet. Nun müssen sie sich zur deutschen Linie durchschlagen und geraten dabei an eine Hütte, in der sich russische Partisaninnen eingerichtet haben. Steiner zerstört deren Funkgerät, so daß sie nicht um Hilfe rufen können. Er gibt seinen Männern den strikten Befehl, den Frauen nichts zu tun. Dann legt er sich völlig erschöpft zum Schlafen nieder. Aufgeweckt wird er von den Schreien eines seiner Männer. Der hat eine der Frauen zum Oralsex gezwungen, und die hat ihm dabei das Glied abgebissen.

Was tut Steiner nun? Erschießen wegen Befehlsverweigerung? Beim weiteren Rückzug mitnehmen und vor ein Kriegsgericht stellen? (Da käme nicht viel bei heraus, es war ja nur eine Russin.) Selber den Vorfall ignorieren (war ja nur eine Russin)? 
Steiner trifft eine andere, überraschende Entscheidung, und die finde ich sowas von richtig! Er zieht mit seinen übrigen Leuten ab und überläßt den Befehlsverweigerer den Frauen. Was die mit ihm machen, erfahren wir nicht, können es uns aber denken.

Nun weiß ich nicht, ob Du sowas magst. Aber ich meine, daß Heinrich sich mit dem alten Thema Krieg und Gewalt gegen Frauen einerseits illusionlos, andererseits doch mit einem guten moralischen Kompaß auseinandersetzt.

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 00:52:
An Deine Abneigung gegen Alfred Döblin kann ich mich noch erinnern.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 12:18:
Wie geschrieben, es interessiert mich tatsächlich.

 Graeculus meinte dazu am 06.06.25 um 13:43:
Gut. Ich war wieder zu geschwätzig.

 Saudade meinte dazu am 06.06.25 um 14:15:
Haha, nein. Warst ein guter Marktschreier.
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