Ende der ersten Woche meines Praktikums habe ich ihn kennengelernt, er hält an einem Autostoppschild und lässt den Motor laufen, bis ich auf die Höhe seines roten Autos komme, er spricht mich an, wo die Ortsmitte sei. Wir tauschen E-Mail-Adressen aus und ich kann ihm gleich am Abend schreiben. Ich nutze Joséphines Computer regelmäßig, ich schlafe auch im Arbeitszimmer während der Praktikumzeit, ich muss ein WG Zimmer für die Zeit nach dem Abi suchen. Ich esse mit der Familie zu Abend, Fredéric ist wie immer zwei Schokoladenstückchen nach dem Essen, Josephine etwas Käse, ich einen Joghurt.
Josephines Tochter Margaux ist fünfzehn Jahre alt, drei Jahre jünger als ich, ich rede mehr mit Fréderic als mit ihr, mit ihm trinke ich auch ein bisschen Bier und höre seine Platten an, manchmal sitzen wir im Plastikstuhl auf der Terasse so und reden über sein junges Leben und meines, was jetzt, was bald beginnt. Er hat das neue Album von den Red Hot Chili Peppers gekauft und scheint es auf dieselbe Art wie ich zu hören, vielleicht höre ich es ab da an immer auf diese Art, weil ich es bei ihm das erste Mal höre, auf der Terasse, abends im Sommer und danach noch bei vielen Gelegenheiten immer wieder, beim Tanzen, beim Schreiben, wenn ich lerne.
Margaux liest viel und spricht wenig, sie lacht gerne mit ihrem Vater, sie ist in einem Alter, in dem sie sich auch verlieben muss, ich glaube das, sie könnte mich verstehen. Nachdem ich Joséphine von meiner Bekanntschaft erzähle, erst am nächsten Tag, nachdem ich Sael geschrieben habe, nachdem wir uns überlegt haben, wie wir uns am Nachmittag sehen könnten, hält Joséphine kurz ihre Bewegung an. Ihr Gesicht ist arretiert, ein kleines Entsetzen huscht über ihre Überraschung, dann vermute ich, dass sie mich frech findet, dass sie sich sammeln muss und sie sagt auch etwas in dieser Art ich muss auf dich achten, wie deine Eltern das tun würden. Was würde deine Mutter sagen. Das erstaunt mich, weil ich dachte, wir sind alle freier, als man es in einem familiären Kontext denken kann, schon jetzt denke ich, dass ich einen Vorschuss von Vertrauen gebe, eine Gratisausgabe, weil es für mich so passend scheint; dass ich Bescheid gebe, auch, dass wir darüber miteinander sprechen können. Ich erwarte, dass es Freude und Aufregung gibt, einen Witz, vielleicht auch, dass sie mich ansieht; wie sehr ich jemandem aufgefallen bin, in ihrem Ort, nach ein paar Tagen, ich sehe sie aufgeregt und mich lässig, mich mutig, sie aber aufgeregt wie Oh, mach mal. Aber sie sieht mich anders.
Wir können nicht darüber reden, es streift mich kurz behutsam, dass sie wie eine Mutter auf mich schaut und ich fühle es auch, wie sie für mich kocht, wie sie für mich Fürsprache in dem Kindergarten gehalten hat, sie kennt die Leitung dort und ist stolz darauf, mich hinzuschicken. Das ist meine Aufgabe.
Wir sitzen zu viert manchmal auf dem Dreisitzer, wenn sie Sport im Fernsehen schauen, ich bin mitten drin, natürlich bin ich ein bisschen Kind und mache das mit, aber ich sitze auch mit Fredéric auf der Terasse und er raucht, wenn wir da sind, eine von den wenigen Zigaretten im Jahr. Eine Packung im Trimester sagt Joséphine. Ich gehe höflich ins Zimmer nach ihrem Nein, nicht so schnell nach dem Essen, vielleicht ist es doch trotzig, auch für sie. Das Nein, das Hochgehen. Mit einem Vorwand, immer ein Buch in der Hand, komme ich wieder, Margaux ist von der Schule zurück, ich klopfe bei ihr an, sie wird auch wieder lesen, vielleicht ist mein Buch wie ein Ticket, es ist trotzdem komisch, weil ich nie klopfe, weil ich keinen Impuls habe, eigentlich, zu ihr ins Zimmer zu gehen.
Sie freut sich einfach, auch, wenn sie zurückgezogen ist, ist sie eigentlich offen für Kontakt. Sie schaut mich ruhig an, weil ich mit ihr über ihre Mutter sprechen will, ich will sie fragen, ob es sich lohnt, dass ich nochmal mit Joséphine über Sael spreche, will Margaux erklären, als Verbündete, dass keine Gefahr von der Idee ausgeht, sich mit einem jungen Mann zu treffen, der gut aussieht. Margaux wartet ab, da ich von ihrer Mutter anfange, schon da sehe ich, wie loyal sie ist, wie unbedenklich sie wie ihre Mutter zu denken und handeln scheint. Und wirklich überrascht ist sie, dass ich jemand kennenlerne, sobald ich ein paar Tage in ihrem Ort hin und her spaziere, zwischen ihrem Wohnhaus und dem Kindergarten, sie hält dies für eigentlich nicht geschehen, glaube ich, aber auch scheint es neu für sie, dass man anhält und eine Adresse austauscht, sie ist ein bisschen interessiert, verwundert, so, als würde ich eine Anleitung für ein Vorgehen, was woanders üblich ist, erläutern. Ich verstehe, dass mehr nicht dabei heraus kommt und meine fast, es war eine dumme Idee, etwas zu sagen und dass ich gar nicht weiterkomme. Aber dann bekommt sie Boden unter den Füßen, hat eine feste Stimme, sie will mir schon antworten, sie sagt Maman wird ihre Meinung nicht ändern, lass es lieber, mit ihr zu sprechen.
Ich kann davon ausgehen, dass sie mit ihr noch einmal sprechen wird, so denke ich kurz, aber vielleicht wird sie das auch erst machen, wenn ich in zwei Wochen wieder weg bin und bis dahin weiß ich, dass ich mich mit Sael treffen muss, ohne, dass die Familie es mitbekommt. Und ich glaube fest, dass ich mit Fredéric sprechen kann, aber ich weiß auch, dass ich niemanden in eine doofe Situation bringen will und ich das erst machen werde, wenn ich sicher erwachsen bin und wir ein paar Jahre zwischen uns haben.
Sael schreibe ich, dass wir miteinander spazieren können, eine Stunde nach Praktikumsschluss, doch ich lasse einen Tag Pause, ziehe meine Schuhe wieder an nach einem Kaffee mit Joséphine, nehme meinen Walkman und sage, dass ich gerne die Umgebung erkunden will, dass ich zwei Stunden später wieder herkomme, ich weiß, dass zwei Stunden verdächtig sind, aber ich fühle mich sicher, weil ich etwas in der Hand habe, dieses Mal nicht das Buch, sondern den Walkman. Ich halte ihn fest und Joséphine schaue ich nicht direkt an, sie kann nichts dagegen sagen außer in zwei Stunden? Egal wie, ich sage Ja.
Und ich gehe schnell, natürlich wartet er und grinst und ich bin eine ganz Andere. In diesem Moment, an diesem Nachmittag, er zeigt mir alles, wir sind überall im Ort und außerhalb unterwegs, reden über Haustiere, über unsere Zimmer und wir bewundern uns, wir bewundern uns vor allem und bewegen uns auf angenehm fremden Terrain in dieser einfachen Dorflandschaft. Er studiert und ist auf Besuch bei seinen Eltern, ich fahre in einer Woche mit dem Reisebus ab seiner Studienstadt ab. Ich kenne dort Aurélie, sie war zum Austausch bei mir vor zwei Jahren.
Abends liege ich im Bett und finde einen Plan, sofort, lasse wieder zwei Tage vergehen, ich rede nicht mehr mit Margaux, auch wenn sie mich aufmerksam ansieht, vielleicht wollte sie gerne die Folgegeschichte hören, selbst wenn sie nicht ganz glaubt, dass ich meine Idee zu einem Treffen mit Sael weiterverfolge. Ich spreche schließlich am Mittagessen, drei Tage, bevor ich fahre, mit beiden Eltern, dass ich mich mit Aurélie, die jetzt studiert, in der Stadt treffen könnte, dass sie einen Park kennt, dass dann Fredéric mich nicht am Abend erst hinbringen muss, sondern nachmittags, dass sei auch entspannter. Josephine sagt, sie würde mich fahren, sie hat eine belegte Stimme, wir haben eine gute Zeit miteinander verbracht und sie hat auf mich aufgepasst. Ich bringe dich gerne abends. Aber eine schöne Idee, Aurélie zu treffen. Du hast doch den großen Rucksack? Gerne will ich den großen Rucksack außen vor lassen, aber sie denkt intensiv daran, ich sage ihr, wie groß und stark ich bin, ich gehe oft mit dem Rucksack. Ich glaube, sie kann nichts mehr darauf sagen, aber es bleibt eine Restunsicherheit, die ich nicht mehr gut verhandeln kann; mir ist die Verletzung unseres Verhältnisses bewusst, ich bin nachdem dieses Gespräch schnell zu Ende ist, so zärtlich, zärtlich mit ihren Tellern, beim Spülen mit ihr, ich wünsche mir noch einmal mein Lieblingsessen von ihr, esse mit ihr zusammen vom selben Käse, ich schaue eine Serie mit ihr, als ihre Kinder schon in den Zimmern sind, ich will mit ihr auf den Sofakissen sitzen bleiben, als Fredéric noch einmal raus in den Garten geht. Sie sagt dann Gute Nacht.
Ich bedauere etwas und bin mit ihr traurig. Wir wissen beide nicht voneinander, worüber.
Ich glaube Jahre später, dass sie auch erleichtert ist, dass es gut ging, zwei Wochen, dass ich wieder abreise und dass ich schon am Samstagnachmittag fahren werde.
Als wir Samstag auf dem Weg zu dem riesigen Stadtpark sind, Joséphine sagt mir, dass er wirklich wunderbar sei, er hat ein großes, goldenes Eingangstor und verbirgt verschiedene Areale, spricht sie noch kurz an, dass sie abwarten will, bis Audrey kommt, sie könne mit mir warten, aber da kann ich sie nicht mehr ansehen, ich bin zu aufgeregt auf Sael und zu gestresst über diese Übergabesituation, ich sage ihr nur, dass ich ein Handy habe, wenn was schief ginge, dass Audrey sicher bald komme, dass sie keinen Parkplatz extra suchen müsse.
Und als sie dann anhält, mich umarmt und ihre eigenen Prinzipien verraten muss, sie kann mich auch kaum ansehen, sie fragt nichts nach, da lässt sie mich stehen, sie hat Tränen, als würde sie wirklich ihr Kind aussetzen und ich übergebe mich in die Unsicherheit, glücklich, frei und entschuldigend. Sie lässt mich.
Sael wartet an der nächsten Ecke und wir schaffen es nur bis zur vierten Parkbank und jetzt ist es anders, wir sind in der Stadt, wir sind dort, wo er wohnt, wo ich niemanden habe und von woher ich abfahren werde und es liegen zwei oder drei Stunden vor uns, wir sprechen kaum, wir knutschen nur. Wir knutschen vor den Kindern, die vorbeirollern, vor den spazierenden Hundehaltern, vor den jungen Leuten, die sich verabredet haben und den Paaren. Es saugt mich so rein, dass ich es nehme, als würden wir miteinander schlafen, ich hab vorher so nicht geküsst und es fühlt sich so endgültig an, dass ich mir nichts danach vorstellen kann. Der Moment verrückt mich in ein Abseits mit Sael. Als wir müssen, rennen wir Hand in Hand in die U-Bahn, wir springen über die Türen, wir schaffen es kaum pünktlich zu meinem Bus und er schreibt mir eine SMS, als der Bus fährt, dass ich sein Glück sei. Mir ist so heiß und die Klimaanlage kalt. Ich bin flüssig. Ich brauche sieben Stunden, um mich zu beruhigen.
Wir brauchen zwei Jahre, um schließlich im Umland seines Dorfes auf einem Stein miteinander zu schlafen, auch danach rennen wir wie angestachelt herum, wir verstecken uns in der Kirche, um wieder zu knutschen, einmal, bevor wir miteinander schlafen, haben wir uns bei Fredérics fünfzigsten Geburtstag nachts auf einer Kreuzung getroffen, haben im Auto gefummelt, er hat mich aber nie besucht. Nicht in meiner WG und nicht in meiner ersten kleinen Wohnung.
Ich rede mit Joséphine irgendwann darüber, doch, bevor ich mit Fredéric spreche. Ich rede nicht stolz darüber, aber ich will ihr sagen, dass der Kontakt zu Sael ein paar Jahre immer wieder bestand, dass ich ihn sehr mochte, dass er Künstler sei. Sie sagt mir, dieses mal beruhigt, dass der Nachname ihr fremd gewesen sei. Wir kennen diese Leute nicht. Es ist einfacher für mich, ihr von Sael zu erzählen, jetzt, da ich nicht mit ihm zusammen bin und es rechtfertigt alles, dass wir uns aber ein bisschen regelmäßig gesehen und geschrieben haben. So denke ich es. Konkret sage ich nicht, was ich gebrochen habe, damals. Ich glaube, dass Margaux es mitbekommt und es muss sie befriedigen wie die Lektüre eines ihrer Bücher. Eigentlich befriedet es alle und ich gehe nicht zu Fredéric, weil die eigentlichen Fragen, der eigentliche Faden so lose in mir hängt.
Er würde meine Melancholie verstärken.
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Wir gehen mit den Kindern durch den Park, ich erzähle Mara, dass ich lange mit Sael hier gesessen bin und geknutscht habe, wir gehen auch zu der Kirche, am Abend fragt mich Mara wieder nach Sael und ich erzähle ihr von der Kirche. Sie findet es richtig toll und flüstert mit mir.
Schon viele Jahre habe ich die Telefonnummer nicht mehr, aber ich suche sie in meinem Telefonbuch.
Auf der Autofahrt erzähle ich Yann davon, das einzige Mal, als Sael mich besuchen wollte, war ich frisch mit Yann zusammen. Ich habe es gleich abgelehnt, ich hätte mit Sael eine Woche über Silvester in meiner Wohnung sein können. Ich sehe die Sterne über dem Balkon meiner ersten Wohnung, Wein, ich sehe das Format der Wohnung unter dem Winkel meiner Affaire, die ein paar Monate vor Yann mit mir darin alles ausgefüllt hat. Ich bin traurig, aber sicher über das nicht Zustandekommen. Ich gebe schon alle Informationen vor, eigentlich, ich sage Yann, dass Sael nicht frei war, wenn ich es war, nur kurz und romantisch zwischendrin, Yann sagt, Sael wollte nur den Coup, er lächelt mich an.
Jetzt gehen wir als Familie zu Ferdéric und Joséphine. Margaux ist hundert Kilometer weggezogen, ihr Mann ist Osteopath, sie haben einen Pool für ihre Kinder und machen lange Radtouren, sie hat den aktiven Sport erst durch ihren Mann endteckt, sie ist Anwältin, sie lese immer noch so viel. Ich schlafe das erste Mal in ihrem Zimmer und ich verstehe jetzt.