Edwarda
Erzählung
von Quoth
Näselnde Saxophonklänge sanken verzerrt vom Casino zur Allee hinab. Der misstönende Schrei eines Blässhuhns drang wie ein Pfeil aus dem Nebel, der über dem ans Ufer schwappenden Süßwasser lag. „Was bin ich für ein Esel!“, dachte der junge Mann, der aus der Abiturfeier hier herunter geflüchtet war, nachdem er den Vater des Mädchens, das er über alles liebte, gebeten hatte, der Kapelle eine Runde zu bringen. „Wie konnte ich ihn für einen Kellner halten! Gerade als ob es nicht auch Menschen im Frack gäbe, die keine Kellner sind! Edwarda wird es mir nie verzeihen!“ Hagen begrub seinen Kopf in den Händen. „Eben noch Festredner vor versammelter Eltern-, Lehrer- und Schülerschaft, und jetzt nur noch ein Häufchen Elend. Was für ein Absturz!“ Das Seewasser gluckste. Der Boden war modrig hier, nicht der ideale Grund, um hineinzugehen. Schritte näherten sich. Zwei Menschen, leise mit einander redend, kamen und setzten sich auf die nächste Bank. Ihr Reden verstummte. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Voller Entsetzen erinnerte Hagen sich an den Kuss, den Edwarda nicht ihm, den er nicht Edwarda gegeben hatte, sondern in dem sie miteinander verschmolzen waren. Ihm war, als spüre er den Duft ihres Speichels noch auf seinen Lippen. Es sollte der Anfang gewesen sein. War es das Ende? „Nein“, murmelte Hagen, „nein!“ Das Paar stand erschrocken auf. „Spanner!“, sagte eine Männerstimme. Das war Lothar, er hatte schon den ganzen Abend Ingrid angegraben. Sie war ein nettes Mädchen, aber hölzern. Edwarda hingegen war wie aus Stahl.
Warum aber hatte sie auch von ihrem Vater nie gesprochen? Warum hatte sie ihm nicht wenigstens gesagt, dass er am Abend ins Casino kommen würde? Hagen hatte sich gewundert, warum sie nie von ihm sprach, hatte aber nicht zu fragen gewagt. Es gab so viele Gründe, über die zu sprechen schmerzlich sein musste. Er konnte gefallen sein. Oder verstorben. Die Ehe der Eltern konnte geschieden sein. Oder er konnte Frau und Kinder auch ohne Scheidung verlassen haben wie Ingrids Vater, der von einem Tag auf den anderen stiften gegangen war wegen eines Tuschkastens von blondierter Sekretärin. Nein, das alles musste er nicht wissen. Er wollte Edwarda nicht das Gefühl geben, er dränge sich in ihr Leben. Oder sei gar neugierig. Die Kromers waren ja erst kürzlich nach Krogstedt gezogen. Vor zwei, drei Jahren hatten sie von Häuslebauern, denen das Geld ausgegangen war, ein fast fertiges Objekt oben am Seeufer erworben. Nun ja, woher hätte eine alleinstehende Mutter mit drei Töchtern das Geld nehmen sollen? Edwarda hatte angedeutet, dass ihre Mutter aus einer alten Hanseatenfamilie stammte. Da konnte es ja durchaus noch Vermögenswerte geben, auch wenn der Bombenkrieg viel vernichtet hatte. Wie auch bei Hagens Großmutter, die eines Tages mit einem halb verbrannten Lederköfferchen vor der Tür gestanden hatte. Ihr Haus in der Hoheluftchaussee war nur noch ein Trümmerhaufen, und oben drauf stand die Badewanne. Hagen schlug sich vor den Kopf. „Eben wollte ich vor Gram noch ins Wasser gehen – und jetzt bin ich schon bei Oma Hedwig!“
Er wollte gerade aufstehen, als ihn der Strahl einer Taschenlampe traf. Die Lampe erlosch, es setzte sich jemand neben ihn. Das war sie. Er roch ihren Duft. Sandelholz. „Warum bist du abgehauen?“ O, wie ihn der Vorwurf dieser Frage berauschte! Sie hatte ihn also vermisst! „Es tut mir so leid“, sagte Hagen. „Ich wollte ihn nicht beleidigen. Aber ich kannte ihn doch gar nicht!“ Edwarda lachte. „Ach, das!“ Ihre Hand suchte die seine, fand sie und umfasste sie fest. Was für eine Wonne, von dieser schlanken Hand umfasst zu werden! „Mein Vater hat gelacht, als er es mir erzählte. ‚Stell dir vor, man hat mich für ein Mitglied des Personals gehalten!‘ Ihm machen solche Sachen Spaß. Ich habe ihn gewarnt, als er den Frack anzog. So etwas tragen doch heutzutage nur noch Kellner! Geschieht ihm recht!“ „Ist das wahr?“ Hagen konnte es nicht fassen. „So wahr!“, sagte sie und drückte ihre Lippen auf seine, was freilich erst klappte, nachdem ihre nicht winzigen Gesichtserker ein Arrangement gefunden hatten. „Und ich dachte schon, alles wär aus!“
Sie genossen einander ein Weilchen stumm. Dann sagte Edwarda plötzlich: „Damit könntest du sogar Recht haben.“ „Womit?“ „Dass zwischen uns alles aus ist. Mein Vater, der vermeintliche Kellner, soll vor Gericht gestellt werden. Wir überlegen ins Ausland zu gehen.“ Hagen schwieg. Was schlug da nun in ihrer beider Leben herein? Tausend Fragen blitzten ihm durch den Kopf, die wichtigsten: Warum und wessen wurde Edwardas Vater angeklagt? Wann? Und warum wollte sie mitgehen? Konnte sie nicht hier bleiben, hier studieren, auch wenn ihr Vater im Ausland war? Als könnte sie in seinem Kopf lesen wie in einem offenen Buch, sagte Edwarda: „Wessen man ihn bezichtigt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er sich für schuldlos hält. Ich würde mit ihm gehen und ihm helfen, sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen. Ich studiere das dortige Recht und helfe ihm in seiner Kanzlei.“ Also war er Anwalt, auch das war neu für Hagen. „Ich muss sogar noch weiter gehen,“ sagte Edwarda und legte ihm die rechte Hand fast mütterlich auf die linke Wange. „Ich weiß zwar nicht, wofür er angeklagt wird. Aber ich weiß, dass es sich um Ungeheuerlichkeiten handelt. Ich mag dich sehr, Hagen. Deine Freundschaft bedeutet mir viel. Du bedeutest mir viel. Du verkörperst für mich – eine Welt der Bildung und des Friedens, eine Welt guter, unspießiger Bürgerlichkeit. Und gerade deshalb muss ich dich warnen. Hänge dich nicht an mich. Auch wenn die Anklagen gegen meinen Vater sich als haltlos erweisen, wie sagt der Lateiner noch mal?“ „Aliquid semper haeret.“ „Danke. Du wirst mir fehlen, Hagen, bitterlich fehlen. Die Gespräche mit dir – über Abälard und Héloïse, über die Göttliche Komodie und den Vers ‘An jenem Tage lasen sie nicht weiter’. Und wie du mich zu einem Burgfräulein auf der Krogstedter Burg gemacht hast. Mit Tütenhut und Schleier! Und mir mit der Laute ein Ständchen bringen wolltest …“
Sie hob seine Hand an den Mund und bedeckte sie mit Küssen. Und mit Tränen, die sie wegküsste. „Es geht nicht anders, Liebster! Ich bin eine Gezeichnete und würde es mir nie verzeihen, dich in den Strudel von Dingen hereingezogen zu haben, für die du überhaupt nichts kannst!“ Das alles kam so überraschend für Hagen, dass es ihm die Sprache verschlug. „Aber auch du kannst nichts dafür!“, brachte er schließlich heraus. „Ich bin seine älteste Tochter. Ich würde es mir nie verzeihen, ihn in dieser seiner schweren Lage allein gelassen zu haben. Meine Mutter ist eine gute Frau, aber in politischen Dingen schnell überfordert. Und meine Schwestern belasten ihn eher, als dass sie ihm helfen. So paradox es ist, aber meine Liebe zu ihm habe ich erst jetzt richtig entdeckt. Ich bin die einzige, mit der er über alles spricht. Würde es dir mit deinem Vater nicht ähnlich gehen, wenn auch er in schwere See geriete? Ich muss dir Adieu sagen, so schwer es mir fällt. Die beiden Plätze im Flieger sind schon gebucht. Wir reisen voraus, weil Eile geboten ist. Leb wohl, lieber Freund!“ Er umarmte und drückte sie an sich wie ein zum Tode Verurteilter. „Ich kriege keine Luft mehr!“ keuchte sie, ertastete den Aufruhr, in dem er sich befand, und gab ihm den Kuss, den keiner, der ihn je bekam, vergisst.