Rüdiger Rottfeld
Erzählung
von Quoth
Zum Beginn des Schuljahrs, und das war damals noch nach den Osterferien, wurden sie ins Nebengebäude umquartiert. Es war baufällig, der Putz bröckelte malerisch von den Wänden, Risse in den Decken ließen befürchten, dass es zu fatalen Durchbrüchen mit durch die Luft fliegenden Schülern und Lehrern kommen könnte. Hinzukam, dass in diesem Gebäude Chemie- und Physiksaal untergebracht waren, und besonders vom ersteren gingen nicht nur üble Gerüche, sondern gelegentlich auch Erschütterungen aus – Bahr und Steenbock, die beiden Chemielehrer, überboten einander im Arrangieren effektvoller Versuche, gleichsam naturwissenschaftliche Populisten, wobei sie sich ansonsten gar nicht ähnlich waren: Bahr ein verlottertes Genie mit oft offener Hose voller Flecken, deren Herkunft nach Auffassung der pubertierenden Schüler eindeutig war, Steenbock hingegen ein immer perfekt in grauen Zweireiher gekleideter Gentleman, den Hagen ein wenig verehrte – sollte er je Lehrer werden, was ja nicht völlig auszuschließen war, so wollte er einer wie Steenbock werden, weshalb er es auch bedauerte, dass nicht dieser, sondern der unappetitliche Bahr sein erster Chemielehrer wurde.
„He, Stempel,“ raunte Rottfeld ihm in der Pause zu, „ich bin nicht mehr lange hier.“ „Wieso, was ist los? Machst du die Fliege?“ Rottfeld grinste über sein eiförmiges sommersprossiges Gesicht, das was von einem schütteren Wuschel roten Haares gekrönt wurde. „Ah, was,“ sagte er, „Fliedner kann mich doch mal! Nein, mein Alter hat sich festgefahren. Er war bisher auf Tramp unterwegs, und jetzt hat die Karibik ihn eingefangen, weiß nicht warum. Wahrscheinlich wegen der Weiber!“ Rottfeld kniff kennerhaft ein Auge zu. „Er hat sich ein Häuschen auf Tobago gekauft, weißt du, wo das liegt? Natürlich nicht – bei Trinidad, und das heißt Dreieinigkeit auf Deutsch. Natürlich weißt du auch nicht, was die Dreieinigkeit ist, weil du nicht am Religionsunterricht teilnimmst, du armer Heide!“ „Was – und da willst du hinziehen?“ „Ich doch nicht allein – mein Muttertier natürlich mit und auch das Wurm, das angeblich mein Geschwisterchen ist, also mütterlicherseits bestimmt …“ Wieder kniff er ein Auge zu, aber diesmal das andere. Er war ein virtuoser Benutzer solcher Zeichen, die dem Gesprächspartner signalisierten: Nimm’s nicht zu ernst! Cum grano salis!“ Oder auch: „Man weiß ja nie!“ Hagen mochte Rottfeld, er war ein wirklich selbständiger Kopf und dabei weder brutal noch selbstherrlich wie Eggert, der Sohn eines Sattelmeisters aus dem Gestüt Rösthoff. Eggert war Hagens Banknachbar, seine Spezialität war es, von guten Arbeiten abzuschreiben und trotzdem Fünfen nach Hause zu tragen, wo er stilgerecht vom Sattelmeister mit der Pferdepeitsche durchgezogen wurde. Was für ein hartgesottener Bursche er war, bewies er dann in der Umkleide: Er enthüllte stolz grinsend sein blaurot verfärbtes Gesäß, verbat sich jedes Mitleid. Er war als Sitzenbleiber in die Klasse gekommen, hatte keine Freunde, aber seine Brutalität war gefürchtet genug, um ihn alsbald zum Klassensprecher zu machen. Hagen mochte ihn eindeutig nicht, aber Fräulein Holm hatte ihn zu seinem Banknachbarn gemacht, weil sie glaubte, dass von ihm eine veredelnde Wirkung auf den Übeltäter ausgehen könnte.
„Der Sklave sieht die Rosen blühen. Rottfeld!“ Fliedner, untersetzt und zäh, fliehende Stirn, fliehendes Kinn, als Parachutist über Kreta abgesprungen, verfügte über einen das Trommelfell zerreißenden Befehlston. Rottfeld stand auf und schwieg mit der ihm eigenen sturköpfigen Verlegenheit. Er sagte nicht: „Das weiß ich nicht,“ machte aber auch keinen fehlerhaften Versuch. „Servus videt rosas florere,“ zischte Hagen ihm zu. Rottfeld wiederholte es, aber sehr leise. „Noch mal, ich verstehe nichts!“ Fliedner legte eine Hand hinters Ohr, Rottfeld murmelte den Satz etwas lauter. „Verstehe immer noch nichts! Hast du denn keine Stimme im Leib, Bursche?“ Fliedner befahl ihm, nach draußen auf die Wiese hinterm Nebengebäude zu gehen, riss das Fenster auf und ließ ihn aus rund 20 m Entfernung den Satz wiederholen. Rottfeld hatte ihn freilich vergessen und schwieg erneut. Vielleicht fand er ihn auch blöd und weigerte sich, diesen Schwachsinn zu wiederholen, der auch auf Lateinisch Schwachsinn blieb. „Hoffnungslos,“ murmelte Fliedner und machte mit gespitzten Lippen eine vernichtende Notiz in sein Büchlein. Hagen begriff, dass Rottfeld nicht ungern nach Tobago auswandern würde. Fliedners gab es da mit Sicherheit nicht – dafür aber Ölfässer, auf denen getrommelt wurde, und Massen üppiger halbnackter Weiber, die dazu mit auf und ab wippenden Brüsten tanzten.
„Nein, verkenne mich nicht,“ antwortete Rottfeld auf eine entsprechende Zettelbotschaft Hagens, die unter der Bank weiter gereicht wurde, „ist die Holmsche denn nicht hinreißend?“ Fräulein Holm war platt wie ein Bügelbrett, eine mal giftig fauchende, mal kaltschnäuzig abkanzelnde verblasste Blondine, vollgestopft mit abgestandenen Idealen. Hagen betörte sie mit einer Bildbeschreibung von Joseph Anton Kochs „Wasserfall“, für sie ein Meisterwerk, für Hagen triste Genrekunst, aber er hatte gelernt, den Schwächen der Lehrkräfte zu schmeicheln, und Fräulein Holm war aus Gründen, die vielleicht in ihrer Herkunft lagen – sie stammte von der weltabgelegenen Insel Amrum – geistig im 19. Jahrhundert stecken geblieben, und als Dorle, ein stämmiges, kluges Mädchen aus der dritten Bank, sie mit dem Bild eines Kornfelds konfrontierte, über dem Krähen auffliegen, schnarrte sie, es sei ihr unmöglich, in diesem Geschmiere Kunst zu erkennen, und dabei war auch das noch 19. Jahrhundert, Dorle war wütend, aber nicht verletzt, sie war sich ihrer Sache viel zu sicher, ihre blauen Augen glühten, und sie murmelte in sich hinein: „Vincent van Gogh war ein Genie, und Sie sind nichts als eine elende Narzisse (sic!).“
Zu Rottfelds ausgeprägtem Eigensinn gehörte es, dass er als einziger daran festhielt, Hagen „Stempel“ zu nennen. Und von ihm konnte Hagen sich das gefallen lassen, von allen anderen hätte er es als Spott empfunden, denn nicht der Stempel, mit dem ein Bürokrat etwas beglaubigt, war gemeint, sondern der zentrale Teil einer Blüte. Fräulein Dr. Kohlsaat hatte in der ersten Gymnasialklasse die Struktur einer Blüte darstellen lassen von sechs Mädchen mit roten Jacken für die Blütenblätter, sechs Mädchen mit gelben für die Staubgefäße, und wegen seiner besonderen Größe war Hagen auserwählt worden, den Stempel zu repräsentieren. Zunächst war ihm das egal gewesen, ja, er fand es schmeichelhaft, von zwölf Mädchen im Ringelreihn umtanzt zu werden, aber dann hatte Fräulein Dr. Kohlsaat auf Nachfragen geäußert, dies sei der weibliche Teil der Blüte – und schon waren Spitzname und Lacherfolg da, während die Mädchen, die die männlichen Staubgefäße gespielt hatten, ungeschoren blieben. Hagen gewöhnte sich an, auf Stempel nicht zu hören, weshalb die Benennung außer Gebrauch kam. Nur Rottfeld hielt daran fest, grinste freundlich-hintersinnig dabei, und Hagen revanchierte sich, indem er Rottfeld nie bei seinem Vornamen nannte.
„Sehen wir uns heute nachmittag?“, fragte Rottfeld, der auch Präsident des frisch gegründeten Vereins der Stummen Skalden war, als sie sich an der Teichstraße trennten. „Ich will sehen, ob ich mich loseisen kann.“ „Wär gut, wenn du kommst. Wir wollen uns doch eine Verfassung geben.“ „Das könnt ihr auch ohne mich.“ „Dein Alter ist doch so ein Paragrafenfuchs.“ „Meinst du, das vererbt sich?“ „Was wir brauchen, ist eine gute Präampel.“ „Eine Prä-was?“ „Ampel. Oder Ambel, egal. So nennt man das Vorwort einer Verfassung. Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor uns selbst und dem Wort.“ „Ein Wort, ein Satz,“ Hagen begann leise zu rezitieren, „aus Chiffren steigen/ erkanntes Leben, jäher Sinn,“ Rottfeld neigte seinen roten Wuschel an Hagens Kopf, so dass ihre Haare sich mischten, und raunte: „Die Sonne steht, die Sphären schweigen, /und alles ballt sich zu ihm hin.“
Das mit dem Loseisen gestaltete sich unschwieriger, als Hagen erwartet hatte. Emil und Vilma erwogen zu bauen, und da Rottfelds Onkel Bauunternehmer war, war es durchaus sinnvoll, dass der Sohn den Kontakt zum Neffen pflegte. „Ich beneide ihn um seinen Namen. Wenn ich noch einen Sohn bekommen hätte, er hätte unbedingt Rüdiger heißen müssen.“ Vilma liebte die deutschen Sagen, besonders das Nibelungenlied und seine Verarbeitung durch Richard Wagner. Sie konnte sich, das jeweils passende Reclam-Textbuch auf dem Knie, durch den gesamten „Ring“ fressen, wenn er aus Bayreuth übertragen wurde – mit der überragenden Martha Mödl als Brunhilde. Emil bevorzugte Verdi. Seine Lieblingsarien waren „Sie hat mich nie geliebt“ aus dem „Othello“ und „Holde Aida“ aus der gleichnamigen Suezkanaleröffnungsoper. Wenn eine von ihnen oder auch Bellinis „Casta diva“ erklang, verließ Vilma die Veranda, in der das NordMende Radio mit dem grün zwinkernden magischen Auge stand. „Dein Vater hat Greta Garbo immer mehr geliebt als mich,“ sagte sie mal zu Hagen. „Und glaub ihm nicht, wenn er behauptet, ich hätte für Italo Balbo geschwärmt. Was für ein Unsinn! Bewundert habe ich ihn, ich wäre selbst gern Fliegerin geworden!“
Der schwarze Schuppen von Herrn Nordmann roch durchdringend nach Karbolineum. Der bejahrte Pädagoge schwor auf die Holz konservierende Wirkung des Teerprodukts und tränkte alles damit, was irgend tränkbar war. Die Freundschaft mit den Skalden war entstanden, als Rottfeld bei ihm Birnen geklaut hatte. Er hatte einen Baum, auf dem gedieh eine Sorte von geradezu göttlicher Süße und Zartheit, die man besser nie probierte, denn dann kam man nicht mehr von ihr los: Clapps Liebling. Zu Rottfelds war eine über den Zaun gefallen, Rottfeld probierte sie – und wurde zum Dieb. Anders als Kirchenvater Augustin bereute er es aber nie; Max Nordmann, der unter Arthritis litt, sah großzügig davon ab, Madeleine, Rottfelds über und über sommersprossige Mutter, zu benachrichtigen, und drückte dem Dieb ein Beil in die Hand. Damit durfte er einmal wöchentlich Holz für den Kamin des alten Recken und seiner Martha machen, und bei dieser Gelegenheit erfuhr Nordmann von der Not der Skalden, die nach einem außer Kontrolle geratenen Besäufnis aus dem Keller von Schwanhild Asmussen herausgeflogen waren. Die Verfassung wurde deshalb in Nordmanns schwarzem, intensiv nach Karbolineum stinkenden Schuppen beschlossen.
Kommentare zu diesem Text
an sich bin ich kein Freund so langer Forentexte; hier hoffe ich aber doch auf eine Fortsetzung.
Sprachlich ohne Fehl und Tadel und hintergründig-amüsant, finde ich.
Applaudierende Grüße