Club toter Pfauen

Erzählung zum Thema Identität

von  S4SCH4

Mari hatte sich vor zwei Jahren angemeldet. Angemeldet in einem Forum für Künstler und solche, die es werden wollten, Menschen die ihre Bilder teilten, ihre Texte veröffentlichten und sich darüber austauschten, dies in Kommentarspalten und Kolumnen, bei Jahrestreffen und teils auch privat. 


Mari war seitdem fast jeden Tag und die ganze Woche lang damit beschäftigt, im Forum alte wie neue Beiträge zu konsumieren, zu verarbeiten und ihre Resonanz dazuzugeben und so wurde aus dem noch recht jungen Forumsküken (so nannte man sie anfangs tatsächlich) bald eine angesehene Mitautorin. Vor allem die älteren Semester fanden Gefallen an jemanden, der so ausgiebig die Texte und Beiträge vergangener Jahre und Jahrzehnte verschlang und ein aktuelles Wort, sowie einen treffenden Kontext dafür fand.
Die altgedienten Künstler des Forums beschrieb Mari einmal mit einem gewissen ironischen Unterton als „Pfauen“, die, ganz anders wie ein Küken, ausgewachsen und bunt, voller Stolz eine Einmaligkeit trügen, ganz anders wie diese lapidaren ganz und gar unbesonderen Küken eben. 


Das meiste, was die junge Frau ins Forum stellte, waren persönliche Tagebuchauszüge, Erfahrungen, Wünsche und Träume und diese Nuancen, dieses Potpourri ihrer Individualität verband sie eben auch mit dem Forum, wobei es fraglich war, ob die Anonymität des Internets ihr eher Distanz verschaffte oder eine Art gewünschtes Menschsein von ihr anfertigte, das sie sich imaginär überstülpte, wie einen für sie gehäkelten Pullover für eine gefeierte und anerkannte Persönlichkeit.


Irgendwann nach einem Jahr hatte Mari begonnen, sich teilweise Beiträge, Briefe und Kommentare ihrer Lieblingskünstler herauszupicken und sie in ein „Sammelsurium Poetenbuch“, wie sie es nannte, zu schreiben, mitsamt der für sie ersichtlichen Entwicklung und Einschätzung über den Fortbestand der betreffend verewigten Künstler. Es wurde bald ein monumentales Werk und umfasste schnell an die eintausend Seiten. 


Während die junge Frau einmal aufgrund längerer Krankheit aus dem Forenalltag gerissen wurde, war ihr erst sehr unwohl ihres gewohnten Alltags - und der innigen Bekanntschaften aus dem Forum wegen, doch sie arrangierte sich, ja musste es. 


Nach ihrer Genesung besuchte sie zögerlich das Forum und musste feststellen, dass ein Großteil der Künstler in kürzester Zeit verstorben war. Sie waren und / oder wurden alt oder nicht, in jedem Fall waren sie nun tot. 


Als Mari sich das „Sammelsurium Poetenbuch“ zum Lesen vornahm, fing sie an zu weinen. Ein Gros der Leute war verstorben und sie hatte diese niemals persönlich kennengelernt. Oder? Sie blickte an sich hinab, über ihren Pullover und auf die Tränen, die auf ihre Hose getropft waren. 


So war Mari nun Mitte zwanzig und hatte bereits mehr verstorbene Bekanntschaften als ihre Eltern zusammen. In ihrer Gedankenwelt rund um das „Sammelsurium Poetenbuch“ trifft sie sich regelmäßig mit dem ein oder anderen Verstorbenen und tauscht sich aus.
Generationen definieren sich unterschiedlich über verfügbare Medien und werden, wie im Falle von Mari, bisweilen zu einem Medium.


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Kommentare zu diesem Text


 Wastl (14.10.25, 23:34)
Hat mich sehr beeindruckt. Auch die aufs wesentlich gebrachte Formulierung hat mir gut gefallen. Thja, der Inhalt hat es sehr in sich, löst Wehmut und Optimismus gleichzeitig in mir hervor. Das menschlich-verbindende les ich mit Wehmut auch heraus, was ich in Deutschland sehr vermisse. Manchmal möchte ich ein Mexikaner sein.

Ganz liebe Grüße und Respekt vor diesem schönen Werk

Wastl

 S4SCH4 meinte dazu am 14.10.25 um 23:59:
Dankeschön. Gerne hätte ich noch mehr diese Generationsübergängssache reingebracht, also was findet da statt.... Schleichend wohl eher, aber gibt es auch den Zündstoff, die CHarge und die Mischung die etwas einzigartiges wachsen ließe? 
Mexiko ist mit dem "dia de los muertos" dem Tag an dem man die Toten "feiert" auch ein super Beispiel!  

Glg und danke für diese Wertschätzung und Impulse die du immer mitbringst 
Sascha
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