Die richtigen Fehler

Satire zum Thema Unschuld

von  Saira

Professor Dr. Ernst Fall war Forensiker in der Gerichtsmedizin, ein Mann, der den Schatten vertraute,  weil sie schwiegen. Seine Finger waren lang, feingliedrig, so schmal, dass die Gummihandschuhe Falten warfen wie alte Haut. Er trug sie trotzdem, Ordnung verlangte Opfer.

Er legte Organe fast zärtlich in Schalen und sprach mit ihnen.

„Na, meine Damen und Herren“, sagte er leise, „wer von Ihnen hat zuletzt noch geschlagen?“
Die Leber schwieg, das Herz war befangen. „Ich notiere: Einstimmigkeit im Tod", murmelte Fall, während er die Lungenflügel glattstrich. Ein kleiner Bläschenrest zerplatzte zwischen den Fingern. Er lächelte. „Eindeutig genug.“

Mit der Feinsäge trennte er Knochen, ohne Eile, im Takt eines Mannes, der gewohnt war, dass alles nach Plan zerfällt. Seine Nase tat das Übrige – sie registrierte den warm-säuerlichen Dunst, in dem Schuld, Angst und Suppe ununterscheidbar waren.

Er glaubte an Zahlen, Etiketten und an sich selbst. Zufall war für ihn ein Wort aus der Esoterik. Humor kannte er nur im Gespräch mit den Toten.

„Na, junge Frau – wohl den Kopf verloren?“ kicherte er, als die Dreißigjährige von letzter Woche in gekürzter Ausführung auf der Liege lag.

An einem Montag bekam er zwei Fälle:

Fall A: Herr Klaus Trophobie – von einer Nachbarin in der Garage an einem Seil hängend aufgefunden.
Gestorben: Mord oder Suizid?

 

Fall B: Herr Perry Ode – in seiner Wohnung entdeckt, Gesicht nach unten im Perserteppich, der Schädel aufgeplatzt.

 

Routine. Zwei Körper, zwei Tische, zwei Etikettensätze.
Dann hakte das Beschriftungsgerät und vergab neue Nummern: A3, B4, B5 …
Fall runzelte die Stirn, prüfte kurz – alles fortlaufend, korrekt. Ein System, das ordnet, kann nicht irren.

 

Wenige Tage später:

„Blutgruppe AB unter den Fingernägeln des Toten Perry Ode.“ Das war Klaus Trophobies Blutgruppe. Für Fall war die Sache klar: Fremdes Blut = Abwehr = Opfer. Das fremde Blut gehörte Trophobie = Täter.


Der Mörder hatte sein Opfer, das sich heftig gewehrt haben musste, erschlagen
und sich danach – wahrscheinlich aus Schuldgefühlen – erhängt.

 

„Na, Herr Ode … das war kein schöner Abgang“, sagte Fall und wandte sich zu Trophobie. „Klaus, Klaus … was hat er dir bloß getan, dass du ihm den Schädel zum Denken geöffnet hast?“

 

Sein Gutachten lautete:
„Täter: Trophobie. Suizid infolge seelischer Belastung.“

 

Die Schlagzeile kam prompt: „Mörder richtet sich selbst!“ Das Land war erleichtert, die Statistik zufrieden, und Professor Fall trank einen Schnaps auf die Effizienz der Beweisführung.  

 

Frau Trophobie erhielt Post vom Amt: „Die Witwenrente wird vorerst ausgesetzt.
Laufendes Ermittlungsverfahren gegen den Verstorbenen.“

Sie bestellte ihre Lebensmittel beim Lieferdienst. Die Nachbarn wechselten die Straßenseite, der Sohn verlor den Job beim Schlachter ... man vertraute ihm kein Messer mehr an. Die Tochter zog sich in ihre WG zurück. Die Mitbewohner sprachen leise, wenn sie eintrat.   
 

Wochen später bemerkte Ernst Fall den Fehler. Ein falsches Etikett – mehr brauchte es nicht, um Schuld zu erschaffen. Er hielt inne, nur kurz, dann legte er die Akte beiseite.

 

„Herr Trophobie“, flüsterte er, „Sie sind unschuldig. Aber das System liebt runde Zahlen. Und Sie passen so schön hinein. Ruhen Sie in Frieden:“

 

Ein Jahr später erhielt er eine Auszeichnung „für unerschütterliche Präzision“.
Er rahmte sie ein. 

 

Am selben Tag bekam Frau Trophobie den Bescheid: „Antrag auf Wiederaufnahme abgelehnt. Kein neues Beweismaterial.“ Sie drehte das Radio leiser, unterdrückte den Wetterbericht von vorgestern und sah auf das verblasste Foto ihres Mannes. Dann nahm sie ein Bad und schnitt sich die Pulsadern auf.

 

Dr. Fall stellte unter die Urkunde ein Glas mit Formalin: darinnen ein loses Etikett: B4? Er betrachtete es lange und lächelte.

 

Ordnung, dachte er, ist die schönste Form des Irrtums.

 

 

 

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2025




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