Die dritte Nacht war vorbei, er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Würde man ihn nicht bald finden, würde er wohl verdursten. Welche Ironie, Millionen und Abermillionen Kubikmeter Wasser um ihn herum, aber eben nicht genießbar. Seit nunmehr fast zweieinhalb Tagen trieb er auf dem Meer, gerade ging die Sonne auf, er fragte sich, ob er dieses Schauspiel ein weiteres Mal erleben würde.
Er begann die spärlichen Tropfen Kondenswasser von seinem Taucherjacket und der leuchtend orangen Rettungsboje zu lecken, bevor die Sonne es unwiederbringlich verdunsten würde. Das war alles, was er seither zu sich genommen hatte, aber es konnte seinen Bedarf natürlich bei weiten nicht decken. Hunger hatte er zwischendurch auch gehabt, aber der war immer wieder vergangen. Er dachte auch wenig daran, viel zu konzentriert suchte er ständig den Horizont ab oder lauschte nach dem Geräusch eines brummenden Motors gleich welcher Art. Doch das einzige, was er zu hören bekam war ein sanftes Plätschern der kleinen Wellen, die gegen ihn schlugen und ihn stetig schaukelten und leicht auf und ab wippen ließen.
Suchte man bereits nach ihm, oder hatte man es gar nicht bemerkt oder einfach übersehen. Eine Frage, die nur Beantwortung fände, wenn er gerettet würde.
Es war ein berauschend schöner Tauchgang in der Dämmerung gewesen, der als Nachttauchgang enden sollte. Hatte er ja auch, nur dass man ihn irgendwie übersehen hatte. Als er auf das Boot zupaddelte, um wie meist als letzter an Bord zu gehen, wurde plötzlich der Motor gestartet und das Boot fuhr davon. Er war so überrascht gewesen, dass er nicht gleich gerufen hatte, aber man hätte ihn sowieso nicht gehört. Zu groß waren Motorlärm und das Gerede der Taucher, die sich gegenseitig begeistert und lautstark erzählten, was sie alles gesehen hatten. Da er allein in den Urlaub gereist war, wurde er auch nicht von irgend jemandem an Bord vermisst, es handelte sich um eine größere Gruppe und einige Pärchen. Somit waren wohl alle untereinander beschäftigt, und keinem fiel auf, dass er fehlte. Lediglich den Tauchguides war ein Vorwurf zu machen, denn eigentlich wären sie verpflichtet gewesen, die Taucher zu zählen. Aber das war wohl nur eine der eigentlich selbstverständlichen Regeln, die manchmal missachtet wurden oder nicht auf allen Tauchbasen konsequent durchgeführt wurden.
Das Wetter war angenehm und das Wasser tropisch warm. Zudem trug er einen dünnen Neoprenanzug. Die erste Nacht und den ersten Tag hatte er noch sämtliche Gerätschaften anbehalten, aber als dann die zweite Nacht anbrach, hatte er erst den Bleigurt abgeworfen und dann auch die Pressluftflasche gelöst, die taumelnd in der Tiefe verschwand. Dadurch hatte sein Kopf etwas an Höhe über dem Wasser gewonnen. Das Tarierjacket fungierte nun wie eine Schwimmweste. Viel Abwechslung gab es nicht, gestern war eine Schildkröte nicht weit entfernt neben ihm aufgetaucht um Luft zu schnappen, war aber alsbald wieder in der Tiefe verschwunden. Hin und wieder sah er über sich am Himmel die Kondensstreifen der Urlauberjets. Aber das war bedeutungslos, aus dieser Höhe war er niemals auszumachen. Er fragte sich, wie weit und in welche Richtung er wohl schon abgetrieben worden war. Ziemlich genau 60 Stunden waren nun bereits vergangen, trieb er Richtung Land oder hinaus ins offene Meer? Er wusste es nicht.
Hin du wieder tauchte er unter Wasser, um herauszufinden, ob er Meeresboden ausmachen konnte, aber vergeblich. Das ließ eher vermuten, dass er aufs Meer hinaus trieb. Natürlich dachte er auch an Haie, aber als Taucher waren diese faszinierenden Tiere eigentlich kein Schrecken für ihn. Zu sehen bekam man im allgemeinen nur relativ harmlose Riffhaie, und er wusste theoretisch, wie er sich im Ernstfall zu verhalten hatte und auch, wie er ihr Verhalten zu deuten hatte. Aber natürlich konnten durchaus zufällig welche der wenigen, auch für Menschen gefährlichen Hochseehaie auftauchen. Alles war möglich. Verletzt war er nicht, und er musste auch nicht strampeln, um an der Oberfläche zu bleiben. Somit würde er sie jedenfalls nicht bewusst anlocken. Ob sie weitere Methoden hatten, ihre vermeintliche Beute aufzuspüren, darüber streiten sich die Forscher noch.
Inzwischen war es bereits wieder Nachmittag, und der Flüssigkeitsmangel setzte ihm immer ärger zu.
Ständig wechselnde Vorstellungen und Erinnerungen durchstreifen seine Gedanken. Mal sieht er sich mit einem Cocktail lachend an der Bar sitzen, dann sieht er seine Eltern und Verwandten, er erinnert sich an seine Arbeit, seine Wohnung und seinen Kater, der momentan von Bekannten versorgt wird. Vergangene Erlebnisse ziehen an ihm vorbei, schöne und weniger schöne Momente in seinem Leben bahnen sich den Weg in sein Bewusstsein. Die Gesichter von Freunden erscheinen und verblassen wieder, und es wird ihm klar, wie vieles in seinem Leben bereits Vergangenheit ist.
Bald wird die Sonne wieder untergehen, dann sind es bereits 3 Tage und in Anbetracht der bald hereinbrechenden Nacht schwindet nun seine Hoffnung. Welche Möglichkeiten bleiben ihm noch, die weniger qualvoll sind als das Verdursten. Schwimmer ist er kein besonders guter und ausdauernder, wenn er das Tarierjacket auszieht wird er in Kürze ertrinken. Das ist zwar auch kein schöner Tod, geht aber deutlich schneller. Sein Tauchermesser hat er auch noch, befestigt an seinem Bein; aber das wird er wohl nicht fertig bringen, sich selbst mit dem Messer zu töten.
Während ihm all diese seltsamen Gedanken durch den Kopf gehen, vermeint er gespürt zu haben, dass ihn etwas gestreift hat. Leidet er an Halluzinationen? Ein Blick unter Wasser gibt ihm Gewissheit, nun haben ihn die Haie also doch aufgespürt. War das nun Zufall, oder ist etwas dran an der Theorie, dass Haie auch Urin im Wasser riechen können, oder irgend etwas anderes wahrgenommen haben, das ihn verraten hat. Ganz gleich, es ist egal, sie sind da. Und nun durchbricht auch die erste dreieckige Flosse die Wasseroberfläche. Seltsamerweise fühlt er keine Panik, betrachtet es als die logische Konsequenz. Sein Trost dabei ist, dass sich damit gleichsam ein Wunsch erfüllt. Nach seinem Tod wollte er schon immer eine Seebestattung, und nun wird er wohl sogar im Meer sterben. Das Meer, dem er viele schöne Erlebnisse und Erinnerungen verdankt, das er liebt wie nichts anderes, von dem wenigen, das sein eigentlich einsames Leben noch ausmacht.
Fünf Haie hat er nun ausgemacht, es können aber durchaus auch mehr sein, der schlanken Silhouette nach sind zwei davon Blauhaie, vier bis viereinhalb mtr lang. Die anderen drei, ein wenig kleiner dürften zur Gattung Makohaie gehören. Sie ziehen bereits ihre berühmten Kreise, noch sind sie neugierig und abwartend, denn ihre vermeintliche Beute entspricht nicht ihrem üblichen Schema.
Natürlich könnte er nun kämpfen, aber das wäre ein kurzes und aussichtsloses Unterfangen. Er müsste mit dem Messer entweder die Augen oder die Kiemenregion erwischen. Aber falls ihm das gelänge, würde das verletzte Tier zur Beute der anderen, würde in kürzester Zeit mehr Haie anlocken und sie in Blutrausch und Fressgier stürzen. Unmittelbar darauf wäre er der Nächste. Er würde das Unvermeidliche also lediglich hinauszögern. Andererseits wäre es dann aber auch schneller vorbei. Was hätte er also gewonnen, wenn er versuchte, eines dieser schönen Tiere zu töten, die lediglich ihrem Instinkt folgen.
Plötzlich vermeint er Motorengeräusch zu vernehmen, und als er wieder den Kopf unter Wasser taucht, findet er Bestätigung. Es muss also ein Boot in der Nähe sein. Das Wasser leitet diese Geräusche deutlich besser als die Luft. Den Kopf wieder über Wasser, sieht er entfernt ein Boot tuckern. Sucht man immer noch nach ihm, oder ist es einfach Glück. Die Entfernung ist schwer zu schätzen, aber 2 bis 3 km ist es mindestens noch weg, und man hat ihn scheinbar auch noch nicht gesehen, denn das Boot hält nicht auf ihn zu. Nun müsste er seine Rettungsboje etwas unter Wasser ziehen, dadurch würde sie sich aufrichten und etwa eineinhalb mtr in leuchtendem orange über Wasser ragen.
Wer wäre schneller, das Boot im Überbrücken der Entfernung oder die Haie mit ihrer Entscheidung anzugreifen?
So viele Gedanken sind ihm nun durch den Kopf gegangen im Anblick des scheinbar sicheren Todes, der ihm nun möglicherweise nochmals Aufschub gewährt. Eigentlich hatte er sich doch schon damit abgefunden, mit seinem Leben abgeschlossen.
Was wartet auf ihn? Eine leere Wohnung, ein stressiger Job, weitere Enttäuschungen wie so viele in letzter Zeit.
Langsam zieht er sein Tauchermesser aus der Halterung und durchbohrt die Rettungsboje, aus der zischend die Luft entweicht. Das Messer zwischen den Zähnen löst er die Verschlüsse seiner Tarierweste und lässt sie davon treiben. Nun öffnet er den Reißverschluss seines Neoprenanzuges und schält sich langsam heraus, während die Haie ihn dabei scheinbar teilnahmslos beobachten. Das Boot hat ihn wohl noch immer nicht entdeckt, denn es scheint sich nun langsam zu entfernen. Er nimmt nun wieder das Messer zur Hand, schließt die Augen, atmet tief aus und während sein Körper im Meer versinkt, fügt er sich mit der scharfen Klinge mehrere tiefe Wunden zu ....