Warum...mir??

Satire zum Thema Humor

von  tastifix

Warum...mir??

Hach, wie freute ich mich auf diese Zugfahrt. Endlich einmal ausspannen, Ruhe vor dem täglichen Kleinkram. Wenn ich es recht überlegte, hätte ich diese Idee schon viel früher einmal in die Tat umsetzen sollen. Aber nein: Davon hatte mich natürlich mein mütterliches Pflichtgefühl abgehalten.
Zu dämlich das! Wie viele Mütter überließen sogar für mehrere Wochen, und nicht nur für zwei kurze Tag wie ich, Kinder und Haushalt dem lieben Ehemann. Der sich dann begeistert der Aufgabe widmete, alles zu putzen. Und den lieben Kleinen angefangen vom Bleistift bis zur in die Ecke gepfefferten Jeans alles hinterher zu tragen. Nicht, ohne sie ab und an mit Wonne an zu brüllen: „Ihr spinnt wohl! Könnt Ihr mir mal verraten, was das Klopapier auf der Wohnzimmercouch zu suchen hat? Und das Nagellackfläschchen im Kühlschrank? Wenn Ihr nicht sofort runter kommt und die Sachen wegräumt, hagelt´s!“ Wie allerdings dann der Hagel aussähe, behielt er noch für sich. Wusste es zu diesem Zeitpunkt der Androhung wahrscheinlich selbst noch nicht. Zu seinem Pech kannten die fraglos einzig um Papas Nerven besorgten Teenager(sie waren zu viert, also vier engagierte Psychotherapeutinnen auf einmal!) ihren Erzeuger mittlerweile recht gut und nahmen diese Drohungen ohnehin nicht mehr ernst. Ein töchterliches Schulterzucken war die Antwort. Doch „tun“ tat sich nichts! Im günstigsten Falle näherten sie sich um den Abstand einer einzigen Treppenstufe, vermieden aber tunlichst die zweite. Das hätte der Papa ja als Kompromissbereitschaft deuten können. Und die nicht zu zeigen, war ein ehernes Teenagergesetz. Galt für sämtliche pubertierenden Jugendlichen in der ganzen, weiten Welt. Galt von Europa bis Australien. Auch am Nordpol und am Südpol. Dort aber eher für tierische Teenager. Eisbär-Teenees und Pinguin-Twens. Bei Nichtbeachtung war man in den Augen der Altersgenossen entarteter Teenager und wurde von der Gemeinschaft der Halbwüchsigen ausgeschlossen. Doch das überlebte kein 13-18Jähriger. Deshalb hielten sie sich alle an die selbsterstellten Regeln. Pubertät war dazu da, um sich gegen die Vorschriften der Erwachsenen zu sträuben und seinen eigenen Willen mit Nachdruck zu demonstrieren. Begleiterscheinung: Genereller Trotz.. Trotz, der Müttern und Vätern gleichermaßen Schweißausbrüche bescherte und verzweifelt Stoßgebete gen Himmel richten ließ. Dort oben den Engeln war es aber mittlerweile zuviel der Plackerei, sich der Millionen Beschwerdebriefe hilfloser Erziehungsberechtigter anzunehmen. Speicherten sie erst einmal im Himmelscomputer unter Dateien/Dokumente. Irgendwann könnte man die sich ja im Falle himmlischer Langeweile zur Kurzweil wieder herauspicken. Einen Vorwurf konnten und wollten sie ihrem allerhöchsten Chef denn doch nicht ersparen: „Warum nur hast du, Gottvater, den erwachsenen Anteilen der Krönung Deiner Schöpfung nicht etwas mehr Grips implantiert, zwecks Arbeitserleichterung für uns Engel?“ Empfand er denn mit ihnen gar kein Mitleid, sah nicht, wie sie unter diesem zusätzlichen Arbeitspensum fast zusammenbrachen? Reichte denn als Aufgabe für seine geflügelte Dienerschaft das ewige Hallelujajubeln nicht voll und ganz aus?? Auf all ihre verzweifelten Fragen an ihren Herrn und Meister bekamen sie keine Antwort. Gott schwieg sich aus. War ausgesprochen mund- und arbeitsfaul. Schwelgte er wohlmöglich gerade in der Erinnerung an den 7.Tag der Schöpfungsgeschichte, seinen Ruhetag??
Also, das allgemeingültige Schicksal elterlicher Nervenstränge war damit vorgezeichnet. Jeder anständige Nervenstrang fing spätestens nach 10 Minuten der Auseinandersetzung mit einem solch reizenden, halbwüchsigen Etwas ganz erheblich an zu flattern. Und da anständige Eltern natürlich nur ausschließlich anständige Nervenstränge ihr Eigen nannten, führte das innerhalb kürzester Zeit zu einer gewissen Labilität der elterlichen Extremitäten. Beine wackelten munter vor sich hin, Hände zitterten. Sie hätten soo gerne ihre Flugkünste bewiesen. Um dann in besonders zärtlicher Weise auf geliebten Teenagerwangen zu landen. Wenn es ganz schlimm kam.(Und da es oft ganz schlimm kam...). Dann zum Pech für den Nachwuchs.
Doch: Ich rief meine Hände jedes Mal streng zur Ordnung. Nein, Ohrfeigen für Teenager gab´s bei uns nicht. Die letzte hatte Katja einstecken müssen. Mit elf Jahren. Danach setzte ich andere Mittel ein. Zum Glück für den Nachwuchs. Fernsehverbot, Ausgehverbot, das allzeit umschwärmte Computerchen wurde ausgeschaltet, usw. ...Des Letzteren wegen starben die dann ja fast. Gottlob nur fast. Ich liebte ja meine Kinder.
All jenen zweifelhaften Freuden des elterlichen Lebens gedachte ich also entfliehen. Einmal nur für mich da sein, ohne Abstriche meine Freiheit genießen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was in meiner Abwesenheit zuhause abliefe. Andernfalls hätte ich ja getrost daheim bleiben können. Nein, diese zwei Tage lang wäre ich pure Egoistin, ließe mich von der Welt umschmeicheln, bedienen von vorne bis hinten.
Als da wäre: Sie stimmen mir doch garantiert zu, dass die Deutsche Bundesbahn dafür bekannt ist, in welch äußerst charmanter Art und Weise sie ihre Fahrgäste auf den ihnen versprochenen Kundenthron setzt. Nur, die müssen einen anderen meinen als die Kundschaft selber. Oder war diese zu doof, um den Spruch „Der Kunde ist König“ richtig zu deuten? Hieß das vielleicht, dass man nicht verwöhnt werden, sondern als kluger König doch bitte alles möglichst selbst regeln sollte? War eventuell das der Sinn? Müßig, darüber so kurz vor Reiseantritt nach zu sinnen. Hinterher endete das noch in irgendwelchen Horrorszenarien, die sich dann vor meinem inneren Auge aufbauten. Und darauf legte ich nicht den geringsten Wert. Stattdessen hievte ich meinen kleinen Koffer, den mit den entzückend grellgrünen Halteriemen, vom Kleiderschrank, legte ihn auf mein Bett und öffnete ihn. D.h., hätte ihn gerne geöffnet. Doch offensichtlich mochte mich dessen Reißverschluss nicht. Er klemmte, klemmte so hartnäckig, dass ich kurz vor einem Wutausbruch stand. Himmel, musste das denn jetzt unbedingt sein? Doch von oben kam keine Antwort. (Der hatte tatsächlich Ruhetag). „Also!“ sagte ich mir. „Bloß Nerven bewahren. Und einen zweiten Versuch starten: Ohne zu zerren oder gar zu reißen!“ Ganz, ganz behutsam ging ich vor. Mit heftig klopfendem Herzen ruckte ich zaghaft an dem Zugnippelchen des Reißverschlusses. Anscheinend war das kleine Anhängsel jedoch ein ausgesprochenes Mimöschen, das jede Manipulation aufs Schärfste heimzuzahlen gedachte. Und sich deshalb in Folge rachsüchtig von seiner Halterung trennte. Lag dann vollkommen harmloser Mimik in meiner Hand, unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Falls das aber glaubte, mich mit einer dermaßen niederträchtigen Taktik vom Öffnen des Koffers abbringen zu können, dann war es auf dem Metallweg. Zu seinem Ärger und natürlich auch dem des Koffers gab ich nicht auf, sondern....
Ja, die Beiden kannten mich immer noch nicht richtig. Denn ich war dickköpfig. Und eine Frau mit praktischer Ader. Was ich in den Minuten danach bewies. Ich flitzte nämlich zu meinem Schreibtisch und fischte mir eine kleine Schachtel mit Büroklammern aus einer der Schubläden. Eins dieser Miniteilchen bog ich auseinander und führte sein Ende durch die kleine Öse des Nippelchens. Dann schnitt ich waagerecht den Stoff des Reißverschlusses ein und schob das kleine Metallteilchen wieder auf. Nach kurzer Prumpelei war das fix geschafft. Der Koffer gälte als Handgepäck. Ich hätte ihn also unter Aufsicht, so dass es weiter nicht tragisch war, dass dort am linken Ende des Reißverschlusses eine kleine Lücke klaffte. Ein offener, gähnend leerer Koffer aber hinterlässt einen deprimierenden Eindruck. Dem ich mich nicht länger aussetzte. Griff mir meinen Lieblingspullover, ein paar Schminkutensilien, ein Taschenbuch für unterwegs gegen die Langeweile und richtig, nicht zu vergessen, sicherheitshalber 2 Pakete Taschentücher. Die allerdings nicht gegen Langeweile, sondern als Bremsmittel für Tränen wegen des eventuell zu rührseligen Inhalts des Taschenbuches. Oder im Ausnahmefall auch einmal gegen Schnupfen. Stopfte alles hinein. Sah sofort besser aus. So, Geld hatte ich schon eingesteckt. Ohne Geld keine Fahrkarte. Und das hätte mir noch gefehlt!
Ein Blick auf die Uhr. Oh, höchste Zeit. Ich wollte die S-Bahn um 9.29 Uhr in Richtung Köln nehmen. „Tschüss, Mäuse! Mama geht jetzt!“ brüllte ich triumphierend durchs Haus. Brüllte, denn ich kannte meine Töchter. Tochter Tina saß unter Garantie vor dem Fernseher und guckte aufgezeichnete Reiseberichte. Tochter Katja trug garantiert schon zu so früher Stunde Stöpsel im Ohr und träumte von „Sting“. (Noch nicht einmal von ihrem Freund. Tz,tz, wenn der das geahnt hätte. Oder: Wahrscheinlich hatte der schon resigniert und sich notgedrungen damit abgefunden, nur Nr.2 in ihrem Herzen zu sein!). Erstaunlich: Ich erhielt sogar eine Antwort: „Jahaa!“ Gerührt ob dieses außerordentlichen Liebesbeweises zum Abschied verließ ich bester Laune das Haus. Klasse, auch das Wetter zeigte sich von seiner schönsten Seite. Hie und da eine Wolke, ansonsten blauer Himmel und Sonnenschein. Nur wenige Schritte bis zur S-Bahn. Auch die war milde gestimmt. Fiel weder aus noch kam sie verspätet. Pünktlich auf die Minute trudelte sie ein. Ich wählte mir einen Platz in Fahrtrichtung. Fand ich angenehmer. Man sah wenigstens, was auf einen zukam. In Köln wäre ich in einer halben Stunde. Die könnte ich mir mit der Lektüre der Zugzeitschrift vertreiben. Ich fing an zu blättern, doch meine Begeisterung hielt sich sehr in Grenzen. Irgendwelche Statistiken über das ganze Drumherum in Sachen Deutsche Bundesbahn mir einzuverleiben, hatte ich an diesem schönen Tage wahrlich keine Lust. Also entschloss ich mich, einfach abzuschalten. Abschalten ist etwas Feines. Aber bitte nicht zu intensiv. So, wie ich mich kannte, wäre ich nämlich dann ziemlich schnell im Traumland gelandet. Um irgendwann aufzuschrecken, irritiert die Umgebung um mich her zu taxieren und dann festzustellen, das Pusemuckel ja wohl kaum Köln wäre. Und mir stünde dann eine sehr lustige Reise quer durch mein geliebtes Heimatland bevor. So richtig über –zig Ecken, um irgendwann total groggy und entnervt am so sehr ersehnten Hauptbahnhof einzutreffen. „Ja!“ versicherte ich dann mir aufatmend, „der kommt mir bekannt vor!“ Ja, ich wäre am Ziel. Dann wirklich in Köln.
„Kööln?“ Fragen Sie ungläubig, „Und ...weite Reise??“ Zu Ihrer Beruhigung: Köln war natürlich nur die erste Zwischenstation auf meiner Fahrt. Mein Ziel war die Gegend um den Taunusstein. Der Kölner Bahnhof war mir vertraut. Zumal meine beste Freundin in Köln wohnte. So hatte ich auch keinerlei Schwierigkeiten, das Reisezentrum zu finden. Bis zur Abfahrt meines ICE´s blieb noch eine Viertelstunde Zeit. Genug Zeit, um mir die Fahrkarte zu besorgen. Die hatten ja genügend Schalter. Da würde es dann ja wohl schnell gehen. Doch das mit „schnell gehen“ erwies sich als voreiliger Optimismus. Bei einem raschen Blick in die Runde zählte ich vor jedem dieser Schalter mindestens fünf Leute, die mit brummigen Gesichtern und, von einem Bein aufs andere tretend, ungeduldig darauf warteten, endlich an die Reihe zu kommen. Einzig ein paar kleine Kinder fanden das Ganze doch tatsächlich aufregend und spannend. Sie drängelten sich zwischen den Wartenden durch und spielten Fangen. Was von denen je nach Veranlagung, ob kinderlieb oder nicht, entweder mit leisem Geschimpfe, oder mit Grinsen und „bück dich, sonst hat sie dich gleich...“ kommentiert wurde. Ach ja, Kind müsste man noch mal sein. „Müsste man wirklich??“ ging es mir durch den Kopf. „Wäre ich tatsächlich bereit, mir noch einmal für viele Jahre vorschreiben zu lassen, was ich zu tun oder zu lassen hätte?“ Fazit dieser Überlegung: Um Gotteswillen! Eigentlich war ich sehr zufrieden damit, dass Erwachsenenstadium bereits seit einigen Jährchen erreicht zu haben. Verantwortung übernehmen und auch tragen, eigene Entscheidungen fällen zu können, sah ich als ausgesprochenen Vorteile des fortgeschrittenen Alters an. „Und ´Mensch ärgere dich nicht` und ´Monopoli` galten auch für Erwachsenen als akzeptabel. Auch Erwachsene durften spielen. Na also!
Während ich so vor mich her sinnierte, registrierte ich, dass Bahnbeamte wider der allgemeinen Überzeugung manchmal ganz schön fix arbeiten. Erstaunlich rasch verkürzten sich die Warteschlangen. Die Angst „Hoffentlich kriege ich meinen Zug noch“ durfte ich getrost ad acta legen. Nach nur fünf Minuten rückte ich zum Schalter vor und traf auf eine besonders nette junge Frau, die sich zusätzlich zur obligatorischen Beratung nebenbei auch noch freundlich mit mir unterhielt. Meine Güte, nahm die sich lange Zeit für mich. Schließlich war ich doch nicht der einzige reisende Mensch auf dieser Welt. Vielleicht war ich der ja sympathisch? Denn - wie oft sonst waren Bahnbeamte ausgesprochen griesgrämig. Zeigten sich  beleidigt, wenn man auch nur ein einziges Wort an sie richtete. Als ob es sich nicht gehörte, als Kunde eine Frage zu haben.
Beruhigt nahm ich meine Fahrkarte plus Sitzplatzreservierung in Empfang. Ein Blick auf die Uhr ließ mich dann doch schnellstens den Weg in Richtung des Bahnsteiges einschlagen. In zwei Minuten sollte der ICE eintreffen. Auf der Tafel war er schon angekündigt. Prima, dann käme er garantiert pünktlich. Zur Sicherheit las ich auf meiner Karte nochmals sowohl die Nummer des Wagens als auch die meines Sitzplatzes nach. Hoffentlich musste ich nicht durch den ganzen Zug zu rasen, bis ich den fände. In Erwartung der landschaftlich schönen Strecke hatte ich mir einen Fensterplatz ausbedungen, um den Ausblick so richtig genießen zu können. Und schon erspähte ich den schnittigen Zug, der rasch heran nahte. Mit seiner Schnauze in meiner Höhe blieb er stehen.
Ohne den blassesten Schimmer einer Ahnung, wo in etwa ich bitteschön den Wagen Nr. 24 fände, wählte ich einen der vorderen Wagen, um von dort aus die Suche nach dem richtigen Abteil zu starten.(Die deutlichen Hinweise an der Außenwand des Zuges zu studieren, hatte ich in der Hetze glatt verschwitzt!). Da der ICE hier in Köln doch einen etwas längeren Aufenthalt hatte, wäre das Risiko relativ gering, dass ich, immer noch nach meinem Platz fahndend, beim Anfahren des Zuges wohlmöglich ins Stolpern geriete und dann, ohne Halt an einer der Stangen, mit ziemlicher Sicherheit auf einem fremden Schoss landete. Von denen genügend vorhanden waren, wie ich registrierte. So, wie das aussah, reiste ich keinesfalls allein. Es würde im Gegenteil proppevoll. „Jedenfalls landetest du weich!“ sagte ich mir. Wo, zum Teufel, standen denn bloß die Nummern der Wagen angeschlagen? Suchend ließ ich meinen Blick an der Gepäckablage entlang wandern. Nichts! Weder an der rechten noch an der linken Sesselreihe entdeckte ich einen diesbezüglichen Hinweis. Verflixt. Ich konnte mich doch bei der Fülle nicht einfach auf einen x-beliebigen Platz setzen. In der Hoffnung, sein Mieter wäre zu Hause geblieben. Wofür hatte ich einen Mund? Um nachzufragen. Egal, ob ich mir dabei ein wenig dusselig vorkäme. Hoffnungsfroh musterte ich meine Mitreisenden. Mindestens zwanzig allein in diesem Wagen. Die sich ohne Rücksicht auf mich ratloses Etwas aufatmend auf die Sessel sinken ließen. Und sich auf die vor ihnen liegende Fahrt durch eine herrliche Landschaft freuten. Sie waren ja auch ihre Sorgen los. Sie saßen ja. Machten es sich an den ausklappbaren Tischchen vor ihnen so richtig gemütlich. Neidisch beobachtete ich, wie die in aller Gemütsruhe ihre Butterbrotpakete heraus kramten und nichtsahnend um meine Sorgen ihr Frühstück genossen. Die alle hatten doch ihren Sessel gefunden. Die wussten, wo(!) was(!) stand. Also, los. Der Erste, den ich zu fragen wagte, war ein junger, neben mir stehender Mann, der gerade seinen Koffer in das Gepäckfach hievte. „Entschuldigen Sie,“ begann ich zögerlich, „können sie mir sagen, wo die Wagennummern stehen?“ „Keine Ahnung!“ War die schulterzuckende Antwort. Daraus folgerte ich zweierlei: Entweder war der zu faul, eine vernünftige Auskunft zu geben oder hatte kackfrech einfach irgendeinen x-beliebigen Platz belegt. Der würde sich wundern, wenn nach spätestens einer Viertelstunde der „rechtmäßige“ Besitzer jenes Sessels erschiene und ihm seine Fahrkarte unter die Nase hielte. So voll, wie es inzwischen geworden war, hätte er dann das zweifelhafte Vergnügen, wohlmöglich die Hälfte der Reisezeit auf dem Gang auf seinem Koffer sitzend zuzubringen. Was dem dann aber recht geschähe. Doch, falls Sie annähmen, dass solcherlei Überlegungen mir Trost bescherten, wären Sie total auf dem Holzweg. Denn, der blöde Kerl saß ja inzwischen. Direkt da vor meiner Nase. Der saß im Gegensatz zu mir, die ich immer noch rätselte, wohin. Klar, dass ich weit und breit auch keinen Schaffner entdeckte, der hilfsbereit für mich quasi den Engel in der Not gespielt hätte. Mir blieb nichts Anderes übrig, als auf die Minderheit von Reisenden zu setzen, die doch tatsächlich sich die Mühe gemacht hatten, den für sie selbst reservierten Platz ausfindig zu machen. Doch wie erkannte man solche Menschen mit Gewissen? Schließlich war es keinem auf die Stirn geschrieben: „Habe mindestens drei Stunden nach meinem Platz gefahndet!“ Was außerdem einen heillose Übertreibung gewesen wäre. Überlegen Sie ´mal. Jemand wollte von Düsseldorf nach Mainz. Fahrtzeit etwa 1 1/2 Stunden. Der hätte sich gewiss von Herzen gefreut, so die Chance zu bekommen, auch noch die nachfolgenden Stationen kennen zu lernen. Und falls er einen wichtigen Termin in Mainz gehabt hätte, wäre der Jubel darüber doppelt so laut ausgefallen.
Tatsache war, dass ich völlig verunsichert bereits durch den dritten Wagon stapfte. Und mein kleiner Handkoffer sich als ein gehässiger Geselle entpuppte, der sein Gewicht zu verdreifachen schien. Um mir begreiflich zu machen, er wäre die Schlenkertour an meinem Arm allmählich leid, erwartete endlich das Ende dieser Schaukelei und einen seiner würdigen Stellplatz. „Hättest dir ja Rollen zulegen können. Bist`e selbst schuld, das Ganze!“ grummelte ich. „Rollen??“ knatschte mein rechteckiger Reisebegleiter beleidigt zurück. „Ein vornehm-konservativer Koffer des alten Schlages lässt sich nicht ziehen, sondern tragen!“ „Dann beschwer dich nicht und halte dein Kofferschloss geschlossen!“ fauchte ich ihn an. Und schwang ihn blitzschnell hinter meinen Rücken, um eine alte, sichtlich zittrige Dame vorbei zu lassen, die, sich an der Lehne jedes in der Reihe nachfolgenden Sessels abstützend, mir im schmalen Mittelgang entgegen trippelte. Ob die auch ihren Platz suchte? Ob ich die mal fragte? Wohlmöglich bekäme ich eine höflichere Auskunft als von dem jungen Kerl in dem vorderen Wagen. „Wissen sie zufällig, welche Nummer dieser Wagen hat?“ „Das müsste da vorne oben angeschlagen stehen. Sehen sie doch einmal nach!“ kam freundlich zurück. Wirklich eine nette alte Dame. Nur nutzte mir diese Antwort herzlich wenig. Und immer noch kein Schaffner in der Nähe. Und auch kein Bedienungspersonal. Mich die ganze Zeit zwischen den Sitzreihen durchzuquetschen, ging mir langsam auf den Wecker. Ein letztes Mal nähme ich noch Hilfe in Anspruch. Ginge das daneben, änderte ich meine Taktik und wäre genauso unverschämt wie der Großteil der Reisenden und beanspruchte den nächstbesten Sessel für mich. Ich war es leid wie dicke Tinte. Sehnte mich ebenfalls danach, endlich den blöden Koffer abzustellen, dann die Beine auszustrecken und dann die vorbei fliegende Landschaft zu genießen. Wenn es ging, bei einer Tasse Kaffee. Erfahrungsgemäß brauten die in den Zügen sehr guten Kaffee. War der vielleicht von Jacobs??
Jetzt hieße es, mir den richtigen Reisenden heraus zu picken, um ihm die alles entscheidende Frage zu stellen. Den Herrn mit dem braunen Hut vielleicht, der da so vertieft in seiner Zeitung las? Nee, der fühlte sich höchstens belästigt. Am Besten jemanden, der einfach nur da saß und in die Gegend guckte. Möglichst mit entspanntem Gesichtausdruck guckte. Meines Wissens nach waren solche Leute am ehesten geneigt, Hilfsbereitschaft zu zeigen. Und sei es nur mit Worten. Wer kam da in Frage? Ich entschied mich kurzerhand für eine Dame mittleren Alters, die auf mich einen sehr zugänglichen Eindruck machte. Ich beobachtete ihre Mimik, als sie sich mit ihrem Nebenmann unterhielt. Sie hatte so ein strahlendes Lächeln. Ja, die würde ich interviewen. Gesagt, getan: „Entschuldigung“, sprach ich sie an, „Ich finde meinen Platz einfach nicht. Laufe schon durch den dritten Wagen. Können Sie mir vielleicht helfen?“ „Zeigen sie mir doch mal ihre Karte. Ach, Wagen 24 suchen sie? Da sind sie hier aber falsch.“ „Ja, wo stehen denn immer die Wagennummern? Mir konnte das bis jetzt niemand sagen“, entgegnete ich. „Die finden sie immer an den Verbindungstüren“, lächelte sie. „Hmm”, machte ich. „Warten sie, ich zeig´s ihnen...Ich komme mal eben mit.“ War ja der reinste Wahnsinn. Dermaßen liebenswürdig. Sie deutete dann an die Wand neben der Schiebetür, durch die man den Verbindungsgang betrat. „Das ist aber freundlich von Ihnen“, bedankte ich mich. Jedoch seufzte ich im Stillen. Denn: „24“ stand da nicht. Leider hätte ich zurück zu marschieren bis zu dem Wagen, von dem aus ich los gezogen war. Doch jetzt konnte ja nicht mehr viel schief gehen. So dachte ich. Aber das kleine Abenteuer war noch nicht ausgestanden.
Zwar hatte diese reizende Dame mir den richtigen Rat gegeben. Ich las dann auch die gesuchte „24“ an der Wand, landete also endlich im richtigen Wagen. Aber: Noch saß ich ja nicht. Und erst recht noch nicht auf dem für mich reservierten Platz. Zwar hielt mein Koffer, wie ich es barsch verlangt hatte, auch weiterhin seine metallische Klappe. Doch jetzt meldete sich mein linker Arm auf geradezu dreiste Art und Weise. Eigentlich trug ich Größe 32-34. Doch nach dieser Odyssee durch die liebe Eisenbahn links mindestens zwei Nummern länger. Mein Arm schien zum Affenarm geworden zu sein. Und wurde langsam lahm. Meinen tragbaren Kleiderschrank in die rechte Hand zu wechseln, hätte zwar sehr zum  wünschenswerten Längenausgleich meiner beiden oberen Extremitäten beigetragen, aber geradeso zu einem zweiten lahmen Arm. Und das erschien mir so gar nicht wünschenswert. Ich zog es vor, den Koffer alle drei Schritte leicht seufzend abzusetzen, den Arm einmal lockernd zu schütteln, um dann mein Gepäck zähneknirschend zwei Sitzreihen weiter zu schleppen. Katastrophal wurde es bei einsetzendem Gegenverkehr. Meistens dann ebenfalls Reisetaschen oder Koffer spazieren führend. Höfliche Mitmenschen: „Entschuldigen Sie. Hier ist alles so eng. Nicht, dass ich sie anrempele. Dürfte ich wohl bitte durch?“ Doch es gab auch Andere. Leider in der Überzahl. Bestenfalls waren die dann so gnädig, sich bei einem überraschenden Überholmanöver wenigstens noch mit knappen Worten anzukündigen: „Lassen sie mich durch. Dahinten ist mein Platz.“ Im weniger günstigen Falle: „Können se nicht mal zur Seite gehen? Unverschämtheit so etwas!“ Kopfschütteln zur Rechtfertigung der eigenen Frechheit. Solcherlei Ansprachen setzten bei mir gewisse Überlegungen in Gang. Zum Glück nur superkurze. Kompliziertere wären überflüssig gewesen. Zu meiner eigenen Gewissenserleichterung kam ich zu dem wohl mehr als zutreffenden Schluss, dass die Frechheit eindeutig auf deren Seite lag. Doch menschlicher Egoismus führte selbst in den schmalen Gängen von Zügen zu noch extremeren Verhaltensweisen.
„Aua“, quietschte ich plötzlich, nicht so ganz unberechtigt. Von hinten klatschte mir mit Vehemenz die Kante einer Reisetasche in die Seite. Anstatt sein Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen, drängelte sich deren Besitzer rücksichtslos an mir vorbei, mich dabei in Richtung des nächsten Sessels stoßend. Der aber war leider belegt. Von einem älteren Herrn, der träumend aus dem Fenster schaute. Dem ich in der nächsten Minute wohlmöglich zu einem etwas anders gearteten Traum verhalf. Ungewollt, aber dennoch mit gutem Erfolg. Denn ich verlor die Balance, mein Koffer landete auf dem Schoß seines Vordermannes und ich auf dem seinem. Sein Gesicht zeigte Verblüffung, dann Freude. Meiner Ansicht nach fast zuviel davon. Hätte ich ja stolz drauf sein können. War ich aber nicht. Mit hochrotem Kopf stammelte ich blödsinnig: „D.das wollte ich n.nicht. Das ist mir schrecklich peinlich!“ Die Antwort vergesse ich nicht so schnell: „Mir aber nicht! Bleiben se ruhig sitzen, junge Frau!“ Hastig erhob ich mich, krampfhaft um mein Gleichgewicht bemüht. Schnappte mir verlegen lächelnd, eine weitere, abgehackte Entschuldigung murmelnd, meinen Koffer und stolperte schnellstens den Gang entlang von dannen. Betete:“ Herrgott, wo ist mein Platz –wo??“
Wie so oft, war der anderweitig beschäftigt und hatte keine Zeit für mich schlotterndes Etwas. Ich müsste mir selber helfen. Fragte mich: “Wieso glaubst du eigentlich noch an den?“ Erschrocken vertrieb ich diesen doch recht frevlerischen Gedanken und konzentrierte mich fix wieder auf die Realität. Die Realität, die so aussah, dass ich immer noch nicht da saß, wo ich hin gehörte. Auf meinem bequemen Sessel. In meiner Vorstellung war er mittlerweile zu einem Designersessel avanciert. Zu einem mit dazu gehörigem Höckerchen für meine Beine, die auch nicht mehr wollten. Verzweifelt lehnte ich mich halb über die Sessel jeder Sitzreihe, um die Platznummern entziffern zu können, die an den Wänden mit roten Leuchtbuchstaben angeschlagen standen. Ich hatte „15“, einen Fensterplatz. Da stand „25“. Na, dann wäre der Zirkus ja gleich überstanden. Und dann, endlich – stand ich vor meinem Sessel. Wie ich es mir gewünscht hatte, am Fenster. Mit einer wunderschönen, hohen Lehne und noch schöneren zwei Armlehnen. Und vor ihm, am Rücken des Vorsitzes anmontiertem kleinen Höckerchen für müde Füße. Herrlich. Ich betrachtete die dicke, gemütliche Sesselpolsterung. Auf blauem Untergrund viele, viele kleine weiße Sternchen. Glücklich, endlich am Ziel zu sein, bildete ich mir ein, sie leuchteten mir wie ihre echten Artgenossen am Abendhimmel strahlend entgegen. Was ich dann allerdings in der nächsten Sekunde zu registrieren hatte, war die ernüchternde Tatsache, dass mein Luxussesselchen nicht so ganz vereinsamt da stand. Nein, bei näherem Hinsehen stellte ich resigniert fest: Da war jemand offensichtlich so keck gewesen, widerrechtlich diesen Thronsitz zu dem Seinigen zu erklären. In der Hoffnung, nicht von einem Schaffner von ihm vertrieben zu werden. Wie konnte es auch anders sein: Dort hockte  ein junger Schnösel von höchstens 20 Jahren. Mit Ohrstöpseln geschmückt, und den dazu gehörigen Computer auf dem kleinen, ausklappbaren Tischchen vor ihm. Schien sehr glücklich beschäftigt zu sein. Ich konnte mir einen forschenden Blick nicht verkneifen. Ich hätte es mir ja denken können: Der chattete, was das Zeug hielt, in aller Seelenruhe mit seinem Schatz. Und das auf meinem Platz.
Bei dem Gedanken daran, dass der da saß und herum flirtete wie ein Bekloppter, und ich hier stand, mit Armen, die kurz vorm Abfallen waren und Beinen, die munter vor sich hin zitterten vor Erschöpfung, packte mich die Wut. „Hallo, könnten sie die Güte haben und von meinem Platz verschwinden?“ Er fummelte sich die Stöpsel aus den Ohren und sah mich verwirrt an. „Häh?“ „Sie sitzen auf meinem Platz!“ Versuchte ich das Gespräch wieder auf ein normales Höflichkeitsniveau anzuheben. „Da sind se aber falsch gewickelt. Da, meine Karte!“ Und wedelte mir mit einer mit hübschen Eselsohren verzierten Fahrkarte dicht vor meinem Gesicht herum. „Platz 15“, war da deutlich zu lesen. Ich war dem Heulen nahe. Sollte dieser Bengel etwa auch noch im Recht sein? Womit hatte ich das verdient? Doch, so schnell würfe ich die Flinte nicht ins Korn. „Da kann was nicht stimmen!“ argumentierte ich. „Welche Wagennummer steht denn auf ihrer Karte?“ „Wagennummer, wieso?“ hakte er nach. Eins war sicher: Die Intelligenz hatte der nicht gepachtet. „Nun ja“, erklärte ich es ihm vorsichtshalber in einfachen Worten wie einem Kleinkind,  „da muss doch auch die Nummer des Wagens stehen, in dem der Platz für sie reserviert wurde!“ Ein unsicherer Blick seinerseits auf das Stückchen Papier in seinen Händen. „Wagen „25“, buchstabierte er langsam. „Ja, dann ist doch alles klar. Dies hier ist nämlich Wagen „24“. Also ist das mein Platz. Sie sind im falschen Abteil gelandet.“ Triumphierend schleuderte ich ihm diese Erkenntnis entgegen. Doch der machte trotzdem immer noch keinerlei Anstalten, meinen Sitz zu räumen. „Ja, vielleicht erheben sie sich gefälligst, damit ich mich endlich setzen kann!“ Meinte ich schon etwas energischer. Nein, so weit käme es nicht, dass dieser Bengel meinen Sessel wohlmöglich für den Rest der Reise beanspruchte, und ich, die ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, „brav“ daneben stünde. „Also“, hub ich an. „Entweder, sie räumen jetzt schleunigst diesen Platz. Oder ich rufe den Schaffner!“ Endlich, endlich tat sich etwas. Verstehen machte sich in seinem Gesicht breit. Aha, soo musste man also mit dem reden. „Nun regen se sich mal nicht so uff!“ Kam da. „Ich gehe ja schon..Mutti!“ Bei dieser reizenden Bemerkung blieb mir der Mund offen stehen. Ich holte tief Luft, hub an zu einer saftigen Erwiderung. Stockte im letzten Moment. Nein, dem gegenüber lohnte sich solche Anstrengung nicht. Und so unterließ ich sie. Doch, oh Wunder, hievte dann dieses überaus sympathische Exemplar Mensch immerhin endlich seinen Koffer aus dem Gepäckfach. Kramte, allerdings provokativ im Schneckentempo, seine Siebensachen zusammen und quetschte sich, natürlich, ohne um Durchlass zu bitten, den Rücken mir zugewandt, an mir vorbei auf den Gang hinaus. Verschwand gottlob relativ rasch in Richtung der „25“. Zum Abschied hatte er mir noch eben schnell im Vorbeistreifen seinen Computer mit Vehemenz gegen den Arm geknallt.
Als Erinnerung an diesen Ausbund an Höflichkeit blieb mir ein hübscher, blauer Flecken. Der jedoch dann ohne weiße Sternchen.
Anstatt mich dann beim Blick aus dem Fenster an der wunderschönen Landschaft zu erfreuen, verschlief ich, total groggy, die ganze Reise.

                                                                                                  Gaby Schumacher, 17. Juni 2004

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Kommentare zu diesem Text

orsoy (44)
(21.07.04)
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 tastifix meinte dazu am 21.07.04:
Lieber Orsoy!

Ich danke Dir ganz herzlich für diese schöne
Beurteilung.
Fein, dass sie Dir gefallen hat. Da müsstest Du eigentlich erst recht an "Na also,...wirklich!!" Gefallen finden. Die halte ich persönlich für noch spritziger.

Ich sehe jetzt einmal nach Deinen Werken. Bin eine furchtbar neugierige Ausgabe Mensch.

LG
tastifix
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