Der abgehackte Daumen

Kurzgeschichte zum Thema Humor

von  tastifix

Ich speiste in einem Restaurant mit verrüscht gewandeten Obern, mit riesigen Gemäldekopien an den Wänden, verschnörkelten Kerzenhaltern auf den Tischen sowie einem purpurroten Teppichboden darunter. Es gab Hähnchenschenkel mit einer extra großen Portion Pommes, auf der zum Ablichten eine fotogene Mayonnaisenrose in Positur gesetzt hatte.

Das Auge isst auch mit. Ich war hingerissen. Kurz darauf nicht mehr nur hin-, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch durchgerissen und das kam so:
Es ist nicht alles Gold, was glänzt und nicht jedes Hähnchen hält an Verzehrvergnügen parat, was es verspricht. Das, welches ich erwischt hatte, widerstand sämtlichen meinen auf langjährigen Erfahrungen beruhenden Schneidekünsten. Das augenscheinlich hauchzarte Fleisch entpuppte sich als Neuzüchtung aus einem ziemlich dreisten Gummi, keinesfalls gewillt, den in ihm schamhaft - weil nicht so besonders attraktiven - verborgenen Knochen freizugeben.

Dennoch guten Mutes stocherte ich mit der Gabel in dem Gummi herum, das sich aber davon kein bisschen beeindrucken ließ. Noch verbarg ich meinen Unwillen hierüber, startete Versuch auf Versuch, was zur Folge hatte, dass es auf dem ´Teller im Jugendstil` völlig anders als zum Jugendstil passend zuging. Stattdessen war dort eine Riesenschweinerei in Gange. Von allen Seiten tropfte das Fett auf das feine weiße Tischtuch aus edler Baumwolle mit dem noch edleren Glanz. Binnen Sekunden war es an Glanz kaum noch zu überbieten und ich bildete mir ein, die übrigen Tischtücher im Saale würden bereits neidisch knistern.

Aber  irgendwann hielt ich den hochsteigenden Ärger über das widerspenstige Menü nicht mehr im Zaum, sondern platzte:
„Ober!“
„Mein Herr?“
Buckelnd blickte dieser Hüter der Gastlichkeit doch recht irritiert auf die Neandertalerschlacht auf meinem Teller:
„Mein Herr, dürfte ich Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen?“
„Den Rat können Sie sich sparen. Schreiten wir besser rasch zur Tat, bevor mein Essen denn Kühlschranktemperatur hat!“
„Sehen Sie, mein Herr“, stotterte trotzdem die weiße Weste neben mir, „die Gabel platzieren Sie möglichst auf dem noch halb verdeckten Knochen zu dessen besserer Justierung. Dann führen Sie das Messer elegant an ihm entlang, vor und zurück, bis sich die anliegenden Fleischfetzen lösen ...“
„Cool!“, dachte ich. „Ist ja ganz einfach!“
Ich platzierte also die Gabel, schob das Messer vor und zurück und wartete gierig auf die kleinen Happen Fleisch. Aber es bewies sich, dass die weißen Westen in solchen Lokalen zwar sehr wohl zu denken verstehen, mit ihren Gedanken jedoch nicht unbedingt Fleisch samt Knochen nutzungsgerecht zu lenken imstande sind.

Mittlerweile hatte sich die Fleischhappenlandschaft auf dem Teller in eine Mini-Arktis verwandelt und der Knochen darin in einen Eisbären. Die Gabel rutschte dauernd ab und das Messer teilte keinesfalls alles in Portionen, sondern glitt von einem Arktishügel zum nächsten. Aber ich hungriges Etwas war nicht gewillt, weiterzuhungern und pfiff schließlich auf alle Etikette:
„Wenn im Guten nichts geht, dann eben anders!“
Wütend griff ich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand das eine, hervorlugende Ende des Knochens und rammte das Messer in das umliegende Fleisch. Ja, ins Fleisch, allerdings nicht in das des Hähnchens, sondern wieder einmal war das Schneidegerät abgerutscht und mir diesmal mit voller Wucht in den Daumen.
„Auu!!!“

Mit fliegenden Rockschößen eilte die weiße Weste zur Stelle, erkannte sofort den Ernst der Lage, ruckelte heftig an dem Messer hin und her im Bestreben, es von meinem lädierten Daumen oder eher umgekehrt ihn von der Schneide zu befreien und machte alles nur noch schlimmer. Denn mein Daumen hatte so gar keine Ähnlichkeit mit dem verflixten Hähnchenfleisch, besaß nicht die Konsistenz von Gummi, sondern war äußerst zart und gab sofort nach. Das Messer durfte sich in dem Stolz sonnen, tatsächlich soeben zur Chef-Schneidemaschine avanciert zu sein. Euphorisch bewies es sein durchschneidendes Talent und teilte kurzerhand den Daumen ab.

Dort lag er nun, ein Stück zartes, bluttriefendes Etwas. Ihn zu einem Ersatzfleischhappen für das ungenießbare Hähnchen zu erklären brachte ich nicht über mich. Im Gegenteil wurde es mir zunehmend schlechter. In meiner Fantasie wurde sein Fingernagel zu einem Gesicht und dieses dann zu einer bösen Fratze:
„Geschieht dir recht. Jetzt haste den Salat!“
Erstens sah ich keinen Salat und zweitens hätte ich meinem Daumen eine solche unverfrorene Beleidigung nie angetan.
„U...und was jetzt?“, fuhr dieses Teil meiner Selbst mich an. „Ohne mich bist du doch aufgeschmissen!“
Verlegen in die Runde grinsend - alle Gäste guckten erstarrt - unternahm ich den hilflosen Versuch, den Daumen mittels der Mayonnaise wieder dort anzupappen, wo er von Natur aus hin gehörte. Doch die blöde, gelbe Pampe spielte nicht mit und jenes arme Fünftel meiner linken Hand plumpste mit einem lauten ´Plong` zurück auf den inzwischen total verdreckten Teller.

Meine Psyche verkraftete die Niederlage und erst recht diesen Horroranblick nicht länger, ich sank stöhnend in Ohnmacht und fand mich eine Viertelstunde später auf der Krankentrage wieder. Den Daumen nähte man mir übrigens im OP ruckzuck wieder an.

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