Ein

Cut-Up zum Thema Abgrund

von  alter79

Das allererste Mal falle ich beim Freigang im Park um. Einfach so. Mir war vorher weder schlecht noch hatte ich irgendwas getan, was das Umfallen erklären oder rechtfertigen würde. Es war einfach so.

Du wichst zu viel! War Dieters Meinung.

Blutarmut!, mutmaßte der Rektor.

Ich gebe ihm Rote Beete-Saft zu trinken, entschied Bruder Karl, der eine Krankenpfleger-Ausbildung vorzuweisen hat geht das Gerücht.

Das zweite Mal kippte ich beim morgendlichen Zähneputzen aus den Pantinen. Ob es am grün gekachelten Waschraum lag, blieb mir als Frage. Oder am Zittern. Das dieses Mal meiner Ohnmacht vorausging. Den stechenden Kopfschmerzen ... dem Müll in meinem Gehirn, wie der Rektor meinte.

Er muss sofort ins Krankenhaus!, beschied Bruder Karl.

Stirbt er sonst? Dieter machte auf besorgt.

Er könnte an seiner Zunge ersticken sollte er nicht rechtzeitig gefunden werden ...

Doch ich lebe. Zurzeit. Noch. Und dann kommt das Gefühl wieder. Wie eine Attacke. Eine schmerzhafte Überraschung aus dem Nichts. Als Kribbeln erst. Dann Zittern. Schwitzen. Die Unmöglichkeit, Luft zu holen. Panik. Die im Kopfkino passiert. Und Bilder, die ich nicht haben will. Wie die von angstvollen Kinderaugen zwischen Sommersprossen. Todesahnungen. Dieser entsetzliche Film im Kopf. Erst Sekundenlang. Dann immer. Ein Gefühl stickig und heiß. Und so was von dunkel, wie in einem Kilometer langen Tunnel. Wie in einem kaputten Fahrstuhl zwischen Sonne und Mond. Als würde mir irgendwer den Hals zudrücken. Dazu diese Kraftlosigkeit. Dann wieder fliegt mein Leben vorüber. Das Jetzt und Später. Meine Existenz in einer geschlossenen Abteilung. Gefesselt ans Bett. In eine Zwangsjacke gesteckt. Eine Gummizelle. In einer Menschenansammlung gefangen, die auf mich einprügelt. Doch geheilt werde ich so nicht. Nicht mein Selbstbild. Die Gefühle. Wünsche. Nicht in Therapie. Denn da passiert gar nichts. Kein Trost. Nur weiter diese unerträglichen Hilfeschreie. Und Regeln: Fortschritt nicht möglich. Geblieben sind Sound und Bilder. Mein gieriges Verlangen. Diese Katastrophe. Für die ihr mich hasst. Ich weiß es. Und es wird sich nichts ändern. Nie.

Aus dem Fenster heraus füttere ich Tauben. Mit Brot. Reiße aus den klitschigen Scheiben kleine Stücke, spucke drauf, rolle die zu einer Kugel und werfe sie den Viechern zu. Ja, mich freut es, wenn die sich um die Brocken balgen, wie irre flatternd aufeinander einhacken. Wenn Federn fliegen. Blut fließt. Wenn eine gewinnt. Und die anderen verlieren. Mein Mitbewohner, ein langer Kerl, mit dürren Armen und Beinen, der, wenn er das Maul auftut, so blöd wie lang daherkommt und der, wenn er seinen Kopf erst Mal durchs Gitter hat, auch seinen mageren Körper hindurchpressen kann ... und das auch tut. Der dann laut lachend auf dem Hof steht um mir dann dort, wie schon Tage zuvor angekündigt, eine Taube fängt. Die ich aber nicht haben will. Und als ich es nun wiederhole, ihm lautstark sage, beißt er der Taube den Kopf ab, wie seinerzeit Ossy Osborn einer Ratte. Nur, dass der hier versucht, den Kopf zu verschlucken.

Kurz daraufhin röchelt und krampft er wie irre, wie ich auch an seinem hampelnden Kehlkopf sehe, fällt um, das Gesicht blau angelaufen bleibt komatös liegen, um von zwei herbeieilenden Wärtern an den Beinen gepackt und ins Haus gezerrt zu werden. Und wie am Ende die kopflose Taube zuckt, ausblutet und stirbt sterbe ich. Weil ich den Weg aus dem Tunnel nicht geschafft habe; meine Seele in der dunkelsten Stelle des Menschen angesiedelt ist, wie ein Gutachter unmissverständlich über mich behauptet.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (14.09.22, 07:05)
Du machst schon am frühen Morgen ansteckend gute Laune! :(
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