Marie ist tot

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  Traumreisende

Marie legte Wert darauf, dass aus ihr keine Maria gemacht wurde. Sie wäre keine Heilige. Und auch keine „Mary“. Das „englische Zeugs“ mochte sie nicht. Manchmal spöttelte sie darüber, ob sie wohl eine Gold- oder Pechmarie wäre.
Sie trug immer schwarze Sachen, ein Zeichen ihrer Trauer. Ich kannte sie nur in diesen Sachen, so viele Jahre der Trauer. Und sie trug ein riesiges buntes Tuch um ihre Schultern. Eines, das mit dick gestickten Blumen bestückt war. Ein Zeichen ihrer Freude, sagte sie, viele Jahre der Freude. Sie trug es, obwohl sie weiter daran stickte. Geschickt platzierte sie es so, dass ihre Hände daran werkeln konnten und selten sah ich ihre Hände ruhen. "Wer am eignem Leibe flickt, hat den ganzen Tag viel Glück". So sah es Marie.

Marie hatte ihre grauen Haare zu einem Zopf geflochten, den sie in altmodischer Weise um ihren Kopf gewunden hatte. Ich war mir sicher, dass sie einst rote Haare hatte, gefragt habe ich sie nie.
Aber Marie war nicht altmodisch. Sie war die Toilettenfrau in der Diskothek meiner Heimatstadt. Pflaster, Nähzeug und vor allem Taschentücher, Marie hatte alles parat für die diversen Notfälle. Und Marie konnte zuhören. Sie hatte immer ganz eigenartige Sprichwörter für die kleinen und großen Probleme. Alle waren verdreht oder eine Mischung aus mehreren Sprichwörtern. Vielleicht halfen sie deshalb. Noch heute sage ich, wenn ich früh eine Spinne sehe: „Spinne am Morgen, vertreibt dir die Sorgen.“ Dann denke ich an bunte Schultertücher.

Ich sah Marie selten allein. Oder nein, ich sah sie nie allein. Immer schwirrten ein paar der schicken Diskomädels um sie herum, meist im Doppelpack. Ich habe nie verstanden, warum Frauen immer gemeinsam auf die Toilette gehen müssen.
Marie war das egal, sie nahm die Eigenschaften aller Mädels als gegeben und war für sie da.

Die Silvesterveranstaltung war für Marie ein besonderes Ereignis. Da wurde sie regelrecht belagert. Sie hatte einen kleinen Piccolo vor sich stehen und sie hatte rote Wangen. Auf ihrem Tisch lag ein bunter Haufen von Geschenken.
Auf den kleinen Anhängern war zu lesen: „Für Muttchen.“
Alle nannten Marie Muttchen und für viele war sie auch eine Ersatzmutter.

Heute dreht sich die Klobrille in einem Reinigungssystem. Marie ist schon seit vielen Jahren tot.
Pflaster und Nähzeug gibt es dort auf der Toilette nicht mehr und vor allem keine Taschentücher, oder jemand, der sie reicht.
Bestickte Umhängetücher erinnern mich heute noch an Freude, an sehr viel Freude.

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Kommentare zu diesem Text

steinkreistänzerin (46)
(03.08.06)
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 Martina meinte dazu am 03.08.06:
Ja das stimmt....seufz..du hast mir eine Gänsehaut gemacht am frühen morgen auf nüchternem Magen Grins- abr schön wars...schön und doch so traurig Lg Tina

 Traumreisende antwortete darauf am 04.08.06:
he ihr beiden nicht traurig schauen sondern an bunte tücher denken lächeln!!!
danke euch lg silvi
kräutersammlerin (48)
(03.08.06)
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 Traumreisende schrieb daraufhin am 04.08.06:
ich hoffe mehr schön als traurig.
oh wenn es sie gibt dann ist das schön für die discomädels )
die vergangenheit hat keine zukunft, das finde ich gut!! den spruch meine ich
hab lieben dank
silvi

 mondenkind (03.08.06)
die verdrehten weisheiten und sprichwörter. die find ich besonders gut. :) eine sehr schöne, liebevolle erzählung. ich mag marie. :) lg, nici

 Traumreisende äußerte darauf am 04.08.06:
ja )))) ich mag die dinger auch

warum die abergläubischen nicht mal verpositiven: katze von links, glück bringst ))
lg silvi
shadowhunter (28)
(03.08.06)
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 Traumreisende ergänzte dazu am 04.08.06:
he das freut mich, wenn du diese kleinen bilder herausfinden konntest...ganz doll danke
und lg
silvi
seelenliebe (52)
(03.08.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 04.08.06:
ohhh danke du !!!
mögen wir vielen maries begegnen!!
die ganz liebe grüße
silvi

 Néniel (03.08.06)
besondere menschen bleiben immer im leben, so lese ich deine kleine geschichte. sie rührt an, berührt den herzschlag und eigentlich möchte ich nur schweigend lächeln. lg, ive.

 Traumreisende meinte dazu am 04.08.06:
dann tu es... ein lächeln stickt bunte tücher....
hab lieben dank du
lg silvi

 apocalyptica (03.08.06)
Wer hatte eigentlich letztens behauptet, du könntest keine Kurzgeschichten schreiben, liebe Silvi?
Mit "Marie" beweist du doch mal wieder, wie gut du es verstehst! Diese Geschichte hat für mich alles, vom Stil wie vom Inhalt, einfach super gut gelungen!
Ich grüß dich herzlich,
die -bea

 Traumreisende meinte dazu am 04.08.06:
damit hast du mir eine riesenfreude gemacht...es ist immer noch ein unsicheres gebiet doch du hast mir da gerade eine menge mut gemacht!!!

danke von herzen!!
silvi
Gini (57)
(03.08.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 03.08.06:
ja und rgendwie sllte der text auch nicht traurig sein und ich freue ich riesig dass du den prozess des stickens in ein so schönes ild gekleidet hast!!
danke und lieben gruß...

ps bider sind on...
Nunny (73)
(03.08.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 04.08.06:
wenn wie mit dem herzen sehen geben wir ihr wieder wärme...
ich glaube daran.
danke liebe gisela
herzlicher gruß
silvi
Lebenslust (63)
(05.08.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 06.08.06:
oh ich freu mich hab dank für deine aufmunternden worte . ich übe mich immer noch an kurzerzählungen.
dir herzlich liebe grüße
silvi
Daina (37)
(07.08.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 08.08.06:
und gleich noch eine freude!!!!
lächel mehr... das ist wie eine blume auf ihr tuch sticken!
ganz liebe grüße
silvi

 DariusTech (10.08.06)
Eine schöne Geschichte. Alles (ver-)geht aber irgendwie bleibt auch alles da. Was ist die Vergangenheit schon anderes als ein anderer Ort. Die Vergangenheit ist ein Ort an dem wir nicht mehr sind. Das Problem in diesem Zusammenhang ist aber auch zum Teil die Tatsache das wohl nicht allzuviele Menschen Klofrau als Traumberuf betrachten. Also haben auch die Reinigungssysteme ihre Berechtigung. Oder etwa nicht?
lg Darius
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