Inferno

Roman zum Thema Verlust

von  Mutter

Als ich das gefühlt zweihundertste Mal am Schwarzen Hahn vorbeifahre, sind die Wagen der Bullen endlich alle weg. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, den Rest des Nachmittags in einem Café oder einer Bar totzuschlagen – aber die Angst vor dem Alkohol hatte mich davon abgehalten. War mir nicht sicher gewesen, ob ich der Versuchung, mich zu betrinken, widerstehen würde können. Fünf Promille im Blut oder eine alte Eiche in Brandenburg – ich sollte in nächster Zeit alle leicht verfügbaren Aus-Schalter von mir fernhalten.
Ich parke das Bike unten vor dem Haus, hänge den Helm an den Lenker. Die Mühe, ihn anzuschließen, mache ich mir nicht. Meine gesamte Aufmerksamkeit ist auf das Gebäude gerichtet, dessen Fenster im zweiten Stock mich drohend anstarren. Rechts liegt unser Schlafzimmer.
Mit einem Ruck gehe ich auf die Haustür zu, schließe auf. Die feuchte, leicht abgestandene Luft im Treppenhaus schmeckt sauer, und trotzdem sauge ich sie in tiefen Atemzügen ein. Um mich zu beruhigen. Auf dem ersten Absatz, bei den Postkästen, werfe ich einen Blick auf meine Hände. Sie zittern. Mein Puls schlägt Salti und ich fühle mich, als hätte ich mehrere Liter Kaffee auf Ex getrunken. Schweiß umklammert kalt meine Stirn. Ich will das nicht. Will da nicht hoch.
Ich habe keine Wahl, muss da hoch. In die Wohnung, um selbst zu sehen.
Kurz kneife ich die Augen zusammen, zwinge mich zur Selbstbeherrschung. Verdränge jeden Gedanken, mache den Kopf leer. Nur die Treppe hoch, alles andere zählt nicht.
Im ersten Stock halte ich erschrocken inne, weil ich hinter der Tür von der alten Karzer Geräusche höre. Will nach unten flüchten, um ihr zu entgehen. Könnte nicht ertragen, ihr zuzuhören – wenn sie mir von heute erzählt. Ja, die Aufregung heute Nachmittag. Nein, warum es so viele Polizisten sein müssen, weiß ich auch nicht. Und wie schrecklich das ausgesehen haben muss. Ja, die Bahre, das war …
Ich laufe rasch auf den nächsten Absatz hoch. Lausche, warte. Nichts.
Stehe vor unserer Tür, betrachte das Absperrband und den Aufkleber der Polizei. Wer dieses Siegel beschädigt, ablöst oder unkenntlich macht, oder den dadurch bewirkten Verschluss unwirksam werden lässt, macht sich nach § 136 StGB strafbar.
Mit zusammen gebissenen Zähnen lasse ich den Schlüssel  durch den Aufkleber fahren, zerfetze das Siegel. Leckt mich!
Der Schlüssel geht nicht ins Schloss. Ich weiß nicht genau, warum ich erwartet habe, dass ich einfach aufschließen kann. Die Bullen müssen ja irgendwie reingekommen sein. Frustriert stoße ich mit der Handfläche gegen die Tür, die sich mit einem Knacken öffnet. Ich nehme an, die haben noch keine Gelegenheit gehabt, das Schloss auszutauschen. Es nur aufgebohrt.
Mit einem letzten Blick zurück gleite ich in die Wohnung.
Im Flur stelle ich fest, dass ich die Luft angehalten habe. Lasse sie zögernd entweichen. Angst befällt mich, tippt mir sanft auf die Schulter. Als wäre noch jemand hier. Aber es ist nur die Furcht vor dem, was ich gleich sehen werde. Ich muss an die blutigen Handabdrücke am Türrahmen denken. Frage mich, ob ich diesmal weiter komme als bis ins Wohnzimmer.
Entschlossen drücke ich die Klinke runter, stoße die verzierte Altbautür auf. Betrete noch nicht das Zimmer, das aus diesem Winkel völlig normal aussieht. Durch die offene Tür ist mir der Blick auf die linke Seite, wo es zum Schlafzimmer geht, versperrt. Mein Adamsapfel tanzt. Noch kann ich einfach umdrehen. Ich nehme an, es gibt später einen Polizeibericht.
Fast muss ich über meinen eigenen Anfall von Feigheit lachen. Galgenhumor. Das bin nicht ich, der da zu mir spricht.
Während ich die Tür weiter aufstoße, gehe ich in das Zimmer. Blick gesenkt. Hebe ihn langsam, richte ihn konzentriert auf den blutigen Rahmen. Luisa!
Die letzten paar Meter überquere ich schnell, mit zwei, drei großen Schritten. Gebe acht, den Türrahmen nicht mit den Schultern zu berühren. Das ist nicht Luisa – nicht einmal ein kleiner Teil von ihr.
Röchelnd stehe ich im Schlafzimmer, würge trocken. Wünsche so sehr, ich könnte mich übergeben, aber nichts kommt. Nur der Würgreflex.
Das Zimmer stinkt. Das Bett, unser Bett, ist zerwühlt. Das getrocknete Blut, das Kissen, Laken und Bettdecke durchtränkt hat, ist rostbraun. Überall stehen, stecken und kleben kleine Zettel – so, als würde ich sonst nicht verstehen, was ich hier sehe. Als müsste man mir die Szenerie erst erklären.
Mit unbeholfenen Schritten gehe ich auf das Bett zu, bleibe stehen. Was will ich da? Dort hat Luisa gelegen, als sie gestorben ist. Ermordet wurde. Ich habe das Bedürfnis, ihr näher zu kommen, zu verstehen, was passiert ist.
Dabei wird mir das zerstörte Bett nicht helfen. Sie ist weg. Ich versuche, nicht an den Plastiksarg zu denken, in dem die Beamten sie vermutlich die Treppe herunter getragen haben. Will mir stattdessen meine Luisa in Erinnerung rufen – das hier hat nichts mit der Frau zu tun, die ich kenne. Aber die schönen Bilder von ihr, all das angenehme – das dringt nicht bis hierher vor. Ich muss aufhören, von diesem Zimmer als unser Schlafzimmer zu denken. Das ist nur noch ein Tatort.
Benommen taumel ich zurück zur Tür, strecke die Hand aus, um mich abzufangen. Bevor ich es verhindern kann, fasse ich in einen der Abdrücke. Lege meine Hand auf die des Mörders – dazwischen der Film aus getrocknetem, pulverfeinem Blut.
Als hätte ich einen Schlag bekommen, zucke ich zurück, verliere fast das Gleichgewicht.

Sekunden später stehe ich keuchend im Hausflur, habe keine Ahnung, wie ich aus der Wohnung rausgekommen bin. Stolpere die Treppe runter, scheuere dabei konstant mit der rechten Schulter an dem alten Putz lang. Weniger Gefahr, bei meiner Flucht auf die Fresse zu fallen zu fallen.
Durch die Haustür stürze ich in die Hofeinfahrt, die kleine Treppe runter - mitten ins Dämmerlicht. Mich fröstelt. Um mich herum dreht sich alles. Gerade will ich auf den hellen Fleck der Straße zugehen, als sich vor mir eine große Gestalt aufbaut. Mir das Licht wegblockt.
Reflexartig reiße ich die Arme hoch, wie, um mein Gesicht zu schützen.
„Luca!“, höre ich Dirtys Stimme, die nur langsam zu mir durchdringt. Ich spüre einen Arm auf meiner Schulter, fühle, wie er mich am Hinterkopf packt. Ich rieche das Leder seiner Jacke, in die er mein Gesicht drückt.
„Alter! Was machst du bloß für eine Scheiße?“
Um mich ist alles dunkel – mein Gesicht gegen seine Brust gepresst. Ich zucke, als hätte ich Schluckauf. Schluchze.
Eng aneinander geklammert stehen wir eine ganze Weile dort im Dämmerlicht, bis langsam jede Energie aus meinem Körper entweicht. Die Anspannung verschwindet. Und mit ihr versiegen auch die Tränen. Kurz bevor ich uns beide mit meinem schlaffen Körper zu Boden ziehe, lässt er mich los und ich sinke langsam auf die unterste Stufe der Treppe.
Ich ziehe die Knie an und lasse den Kopf müde auf die verschränkten Arme fallen. Dirty steht einfach da, beobachtet mich und schweigt.
Nach einer Weile setzt er sich. Macht einen ungelenken Versuch, mich ein weiteres Mal in den Arm zu nehmen. Als ich ihm nicht entgegen komme, bricht er verlegen ab. Hockt neben mir, wartet.
„Ich habe mit Frank gesprochen“, setze ich nach einer Weile an. Meine Stimme klingt schleppend, als hätte man ihr jeden Knochen gebrochen.
Ich spüre, wie mich Dirty ansieht. Drehe leicht den Kopf, schaue zu ihm rüber, während ich weiter auf meine Unterarme gebettet liege. Ich mag das Gefühl. Als würde ich so weniger hart aufschlagen.
„Er sagt, er kümmert sich darum. Versucht, was rauszufinden. Und meldet sich dann.“
Dirty nickt, sieht nachdenklich geradeaus. Den Blick auf der gegenüberliegenden Mauer mit den Tags, Sprüchen und billigem Graffiti verloren. Hose runter, Beine breit, denn ficken ist ‘ne Kleinigkeit steht da mit Edding geschrieben. Ich muss nicht mal hinsehen – jedes Mal, wenn ich aus der Wohnung gekommen bin, habe ich den gelesen.
„Du hättest da nicht reingehen sollen“, stellt er ansatzlos fest.
Ich korrigiere ihn. „Ich hätte da nicht nicht reingehen können.“ Betrachte ihn im Halbprofil. Denke darüber nach, wie viel Halt er mir in meinem Leben gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne ihn zu sein. Dabei fährt mir ein Stich durch die Seele. Gestern hätte ich mir auch nicht vorstellen können, ohne Luisa zu sein.
Dirty verschwindet erneut hinter einem Schleier aus Tränen.

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