Opportunismus in Reinkultur

Groteske zum Thema Reue

von  loslosch

Saepe, qui misereri potuit [potuerit?], misericordiam rogat (Seneca der Ältere, ~54 v. Chr. bis ~39 n. Chr., Controversiae). Oft bittet um Mitleid, wer (selbst) hätte Mitleid zeigen können.

An die Entnazifizierung nach 1945 und ihre Implikationen konnte Seneca der Ältere damals wohl kaum vorausschauend gedacht haben. Zu berichten ist von einem eher unspektakulären Fall: In einer kleinen Gemeinde von tausend Seelen erlebte ein damals 12-Jähriger den Tag der Machtergreifung Hitlers vom 30.1.1933 akustisch am Volksempfänger (im Scherzlatein: Uterus commune), einem Urtyp des Radios. Im folgenden Schuljahr trat der Pädagoge der örtlichen Mini-Volksschule (Zwergschule) mit dem Ansinnen an seine Schüler heran, zwei Sonderstunden politische Bildung wöchentlich über die "Bewegung" (NSDAP) zu verabreichen. Wer nicht "freiwillig" teilnehme, müsse samstags ausgiebig nachsitzen. Der mittlerweile 13-Jährige ging dann als Einziger der Zwergschule in die Samstag-Schleife.

Zeitsprung in das Jahr 1946. Der Ex-Nazi-Pauker schaute bei seinem ehemals unbotmäßigen Schüler vorbei. Seine dringliche Bitte: Ein Persilschein über die braunen Jahre. An die Eskapaden seines Ex-Schülers mochte er sich nicht mehr erinnern, ebenso nicht an die feste eigene ideologische Gesinnung. Hier ging das Wort von Seneca d. Ä. in Erfüllung: Andere bittet er um Mitleid, selbst zeigte er keines.

Den Persilschein erhielt er dennoch, vom ehemaligen Schüler. Fast schon zu viel des Mitleids.


Anmerkung von loslosch:

Als Akrostichon  hier.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (08.02.11)
Lieber Lothar,
ich habe diesen Fall in meinem Umfeld schlimmer erlebt und fühle mich immer noch betroffen.
Wie in deinem Beispiel machte der Pädagoge Propaganda für die NSDAP. Nach dem Kriege erhielt er den Persilschein. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, weiter für die nationalsozialistische Ideologie einzutreten.
Deine Frage, ob das Mitleid sinnvoll und berechtigt ist, verschärft sich dadurch, dass die Persilscheinempfänger in der Regel Familie hatten.
LG Ekki

 loslosch meinte dazu am 08.02.11:
Meinen Text mit Deinen Hinweisen werde ich demnächts einem schlohweißhaarigen Herrn, Jg. 1921, zeigen. Er nannte als Motiv für seine Nachsicht: Er hätte sonst aus dem Dorf auswandern können. Gestern wurde seine Frau, nach 60 Ehejahren, zu Grabe getragen. Solche Menschen wären würdig für das Verdienstkreuz. Danke Dir, Ekki. Lothar
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram