Dilemma des Wissens

Erörterung zum Thema Ungewissheit

von  loslosch

Pereundi scire tempus assidue mori (Publilius Syrus, 1. Jh. v. Chr.; Sententiae). Seine Todesstunde zu wissen ist wie ständiges Sterben.

Glänzend logisch verdichtet, Herr Publilius Syrus. Wenn du nämlich weißt, dass dein Todestag der x-te x-te Zweitausendsoundso ist, denkst du täglich daran, die leerlaufende Sanduhr vor Augen mit dem aktuellen Pegelstand. Ein Wissensdilemma. Ein solches entsteht auch, wenn z. B. die superschlaue Firmenleitung ihre Mitarbeiter im Büroturm wie folgt unterrichtet: "In der kommenden Woche soll ein Feueralarm durchgeführt werden. Damit die Übung echt wirkt, halten wir den Wochentag geheim." Was nun, wenn bis Donnerstagabend noch immer kein Alarm ausgelöst ist? Dann herrscht letzte Gewissheit, dass der Alarm am Folgetag, einem Freitag, passiert. Wenn aber bis Mittwochabend keine Alarmübung war, weiß man, dass sie am folgenden Tag, einem Donnerstag, stattfindet; denn der Freitag kommt ja nicht in Betracht. Siehe oben. Wie nach einer Art Treppenwitz bleibt am Ende nur der Montag übrig. Die Übung sollte möglichst schon am frühen Vormittag einsetzen, wenn das Hochhaus gerade voll belegt ist. Alle könnten also den Termin, unter Anwendung der Denkgesetze, im Voraus wissen.

Dieses Dilemma ließe sich umgehen mit der Formulierung "In der nächsten Zeit soll unangekündigt eine Alarmübung erfolgen". Für den Tod gilt: Alle Menschen sind sterblich. Damit muss man leben.

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Kommentare zu diesem Text

managarm (57)
(06.08.11)
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 loslosch meinte dazu am 06.08.11:
was wollte der herrenreiter jünger damit sagen? vorrecht? tiere verschwenden ja keinen gedanken daran, soweit wir menschenkinder beobachten. richtig ist natürlich, dass eine determinierte zukunft das leben zur hölle machte. soweit stimmig, frank. lothar

 Bergmann antwortete darauf am 06.08.11:
Ich schätze den Schriftsteller Ernst Jünger sehr, und es war gut, dass er den Rausch "In Stahlgewittern" protokollierte und seiner Eitelkeit nicht die Maske einer falschen Bescheidenheit aufsetzte.
Aber in dem zitierten Satz kann ich den Begriff des Vorrechts nicht verstehen, auch nicht akzeptieren; und wohltuendes Nichtwissen als "Diamant im Diadem der Willensfreiheit" (Krone der Schöpfung...) ist Quatsch.
Mit der Gewissheit des Todes müssen wir fertig werden. Manche fallen in tiefe Depressionen, zumal wenn sich der Tod im hohen Alter immer mehr andeutet und in Unbeweglichkeit und Schmerzen bemerkbar macht. Da wird es auch immer schwieriger mit der Verdrängungskunst. Wenn wir nicht mehr mit dem Tod kokettieren können, hat er uns schon angefasst.


Der Tod

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt. – Matthias Claudius, 1799


An den Tod

Mich aber schone, Tod,
Mir dampft noch Jugend blutstromrot, -
Noch hab ich nicht mein Werk erfüllt,
Noch ist die Zukunft dunstverhüllt -
Drum schone mich, Tod.

Wenn später einst, Tod,
Mein Leben verlebt ist, verloht
Ins Werk - wenn das müde Herz sich neigt,
Wenn die Welt mir schweigt, -
Dann trage mich fort, Tod. – Gerrit Engelke, 1914

-
(Antwort korrigiert am 06.08.2011)
managarm (57) schrieb daraufhin am 06.08.11:
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 Bergmann äußerte darauf am 06.08.11:
- - - und mir fällt beim Delta Kafkas "Kleine Fabel" ein, die kleine Geschichte, wo eine Maus in die Falle der Zeit geht oder in die Krallen der Katze...

 Bergmann ergänzte dazu am 07.08.11:
Theseus, du hier?
magenta (65)
(06.08.11)
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 loslosch meinte dazu am 06.08.11:
den weißen raum kannte ich nicht, wohl aber die dahinterstehende idee. dass ich so sarkastisch bin, war mir in diesem kontext nicht bewusst. eigentlich stimmts aber schon, heidrun. manchmal ... lothar

 Bergmann (06.08.11)
Care Lothare,

ich setz noch einen drauf: Der religiöse Mensch, der es schafft, an seine Wiederaufstehung zu glauben, ist noch besser dran, denn ihm kann der Tod nichts anhaben. Glauben ist gerechtfertigter lebenskünstlerischer Selbstbetrug... Zwar weiß auch der Glaubende nicht, wann er (anders) weiterlebt, aber kann sich im Gegensatz zu Atheisten und Agnostikern zudem noch in Vorfreude steigern! Es ist erwiesen, dass gläubige Menschen im Durchschnitt länger leben, insbesondere Mönche und Nonnen. Die besten Lebenskünstler unter ihnen dehnen ihre Vorfreude auf den Tod aus wie einen Liebesakt, so lange es geht, und so genießen sie auch ihr Leben mehr als jeder andere, zumal sie weniger weltliche Ablenkung (!) und Abwechslung benötigen als die anderen. -

Ich erinnere auch an Thomas Manns zentralen Erkenntnissatz: Du sollst dem Tod keine Macht über deine Gedanken geben! Das ist im "Zauberberg" nicht primär christlich gemeint. Sondern als kluges Lebensgesetz. Aus höchster Erkenntnis erfolgt Verdrängungskunst! Den Tod verdrängen und zugleich in Leichtigkeit akzeptieren, das ist die Überwindung falschen Lebens.

t. t. Ulius
(Kommentar korrigiert am 06.08.2011)

 loslosch meinte dazu am 06.08.11:
tja, vor lauter vorfreude aufs ewige leben leben sie hienieden länger - bis auf die sünderlein, die in ständiger todesfurcht leben. eine verschwindend kleine zahl ...

nebenbei: während die lebenserwartung männlich/weiblich um 6 bis 7 jahre - mit sinkender differenz - spreizt, leben die klösterlichen nicht nur länger, sondern nonnen überleben mönche nur um 4 bis 5 monate, statistisch kaum signifikant. t.t. lo

 Theseusel meinte dazu am 06.08.11:
Horror vacui!

 loslosch meinte dazu am 06.08.11:
zum horror vacui (auf bes. wunsch) demnächst was. :) lo
Nimbus (35)
(06.08.11)
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 loslosch meinte dazu am 06.08.11:
eine art potpourri, liebe heike. lothar

 EkkehartMittelberg (07.08.11)
"Seine Todesstunde zu wissen ist wie ständiges Sterben."
Die meisten Menschen fürchten sich vor dem Wissen ihrer Todesstunde. Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch, dass sie Wahrsager bemühen, weil sie diese selten wirklich ernst nehmen.
Ich habe in einem entlegenen Hotel in Südamerika erlebt, dass ein Wahrsager solche Ernsthaftigkeit abstrahlte, dass von einer großen Reisegruppe - mich eingeschlossen- keiner seine Dienste in Anspruch nehmen wollte, bis auf ein sehr junges Paar. Das bestätigt die Sentenz von Publilius Syrus.
Ekki

 loslosch meinte dazu am 07.08.11:
interessanter test, ekki. nur das junge pärchen brachte den "mut" auf, in der irrigen annahme, der ach so ferne tod lasse sie unbeschwert weiterleben. eine gesunde reaktion der reisenden, aber auch bei etlichen vermutlich die angst, der kerl könnte es tatsächlich wissen. :) lo, einen rückkehrer willkommen heißend
Graeculus (69)
(12.07.15)
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 loslosch meinte dazu am 12.07.15:
tja, die kommis bin ich dann nochmal durchgesaust. text auch in den aphos, s. 175.
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