Weggehen 9 (Häute)

Text zum Thema Liebe und Hoffnung

von  Ganna

Ich stelle mir vor, wie bei einer Zwiebel bestehe ich aus vielen Häuten, die sich schützend über einen inneren Kern legen, in dem alles auf Wachstum ausgerichtet ist. Um zu wissen, was sich von der Mitte aus entfalten will, muss ich unter diese Häute schauen.

Zuerst entferne ich allen materiellen Besitz. Zu offensichtlich ist, dass er nur wie Dekoration an einer Fassade klebt. Geld kann auf so viele verschiedene Weise erworben werden, so dass es nicht geeignet ist, etwas über den inneren Wert eines Menschen auszusagen, über das, was nach Entfaltung strebt. Viele Menschen erben Geld, Grundbesitz und Wertpapiere von den Eltern, arbeiten nie und führen ein gutes Leben unabhängig von ihren Tätigkeiten. Andere wieder ergaunern sich Besitz, gewinnen im Lotto oder heiraten einen reichen Partner. Sie werden niemals wissen, wie es sich ohne materielle Absicherung lebt und die meisten von ihnen wollen es auch nicht wissen.

Ich dagegen wüsste auch nicht, wozu eine materielle Hülle wachsen sollte, es wäre nicht wünschenswert. Sie würde sich dadurch nur verfestigen, verhärten und wäre nicht mehr durchlässig für alles Darunterliegende. Wie ein fester Panzer würde sie den ganzen Menschen umschließen, seine Gefühle und sein Denken einschränken und begrenzen. Das erscheint wenig sinnvoll. Ein Übermaß an materiellen Dingen muss den Menschen verhärten und ihn in seiner Anpassungsfähigkeit beschränken. Die Nachteile scheinen mir offensichtlich.

Als nächstes wähle ich den Status aus, der durch die Geburt und Bildung erworben werden kann. Auch dieser ist weitestgehend vom Geld und der Stellung der Eltern abhängig, also in vielen Fällen nicht geeignet zur Kenntnis der inneren Werte eines Menschen beizutragen. Und auch der Status kann einen Menschen einschnüren und  wie ein Korsett ihm den Atem nehmen, ihn begrenzen in seinen herzlichen Ausdrucksformen.

Nach dem Status kommt die Tätigkeit, die sich erheblich von der genossenen Ausbildung unterscheiden kann. Eine Tätigkeit ergibt einen mehr oder weniger großen Nutzen für die Menschen, kann aber auch zum Schaden an Mensch, Tier und Umwelt geschehen. Somit trägt sie schon zum inneren Bild des Menschen bei, der sie ausübt, denn sie kann infolge reifender Erkenntnis auch entgegen einem erlernten Beruf gewählt werden. Sie ist auswechselbar, kann im Laufe des Lebens in Frage gestellt und geändert werden. So wird sie fast immer nur zeitweise ausgeführt und gegen Ende des Lebens meistens ganz aufgegeben. In der Abfolge der Beschäftigungen kann sich  die innere Entwicklung des Menschen spiegeln.

Kultur, Zeitgeist, Glaube und Ideologie werden uns im Rahmen der Erziehung von der Familie, der Schule und der Klasse, der wir angehören mitgegeben. Gleich zu welcher Gruppe wir uns zählen, diese Bereiche des Denkens teilen wir mit vielen Menschen auch dann, wenn wir unser mitgegebenes Denken in Frage stellen und ändern.  Verhält es sich so, fallen wir in eine andere Schicht, eine andere Religion, eine andere Partei. Ob rot, grün oder braun, einem Chameleon gleich wechselhaft sagt auch das, jederzeit veränderbar, wenig über unseren inneren Kern aus.

Die Familie mache ich zur fünften Haut. Sie trägt sehr zur individuellen Ausprägung eines Geschöpfes bei.
Es prägt einen Menschen, ob er zehn Geschwister oder nur eines hat, ältestes, jüngstes, behütetes oder vernachlässigtes Kind ist. Kindheit ist Bürde und Aufgabe in jedem Fall, will als solche erkannt und bearbeitet werden. In ihr wird der Status der Eltern auf das Kind übertragen. Es wird vielleicht der Versuchung erliegen, sich ein Leben lang als etwas Besseres zu fühlen und somit für selbstverständlich halten, was andere sich hart erarbeiten müssen. Oder es wird sich selber von vorn herein aufgeben, weil es nicht genügend an seine eigene Kraft glaubt und ein Scheitern hinnehmen.
In der Wiege nimmt unser Lebensweg seinen Anfang und wie die Wiege ausgestattet ist, bestimmt die Startbedingungen. Jedoch gibt die Familie nur die Aufgaben mit, die für unser Leben bereit stehen. Je nach Veranlagung kann so oder so auf die gestellten Aufgaben reagiert werden. Alle Möglichkeiten liegen im Menschen selbst irgendwo in einer seiner tieferen Häute. Es bleibt die individuelle Entscheidung im Rahmen der Möglichkeiten, wie sich ein Mensch seiner Aufgaben annimmt. Also liegt der eigentliche Kern eines Menschen unter der Hülle der Familie verborgen.

Wenn ich Beruf, Tätigkeit, Bildung, familiäre Prägungen und die Weltanschauung entferne, treten die Talente und Begabungen hervor, die sich in allen genannten Bereichen ausdrücken können, aber nicht notwendigerweise müssen.
Der Charakter als siebente Haut wird entscheiden, ob jemand seine Begabungen umsetzt und sie ihm und seinen Mitmenschen Vorteile bringen. Das größte musikalische Talent kann verkümmern, wenn dessen Träger  nicht ein Minimum an Disziplin besitzt und den Mut hat, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Also sind darunter liegende Eigenschaften wichtiger für unser Menschsein, als die Talente und Begabungen selbst.
Bilden aber unsere Charaktereigenschaften den eigentlichen Kern, aus dem unser Sein erwächst? Und vor allem, sind alle diese Eigenschaften gleich? Ohne Zweifel sind sie es nicht. Wir müssen zwischen Ausprägungen, die veränderbar sind und im Lebenslauf auch verändert werden und denen, die unverändert sind unterscheiden.

Die veränderlichen bilden die neunte Haut, die den Kern umschließt. Diese können infolge der frühkindlichen Erfahrung erworben oder als Anlage mit auf die Welt gebracht worden sein. Beides ist möglich, beides konnte ich bei meinen Kindern beobachten. Eigenschaften wie Neid, Gier, Geltungsdrang, Rücksichtslosigkeit, aber auch Unzuverlässigkeit, Falschheit, Schüchternheit und Trägheit sind veränderlich. Sie mögen das Verhalten eines Menschen zeitweise bestimmen, können jedoch durch Erkenntnis und Erfahrung abgelegt werden.

Tiefer sitzen unsere Gefühle, Ängste, die uns begleiten, behindern, leidend machen und sich meistens nur sehr langsam in Vertrauen wandeln. Von ihnen lassen wir uns zum großen Teil leiten. Doch auch sie sind erworben und nicht ursprünglicher Bestandteil einer Seele. Hier zeigt sich oft, dass Kinder die Ängste der Eltern und Großeltern weitertragen, wenn diesen Gelegenheit und Kraft fehlte, ihre Probleme beizulegen.
Hier sitzen Bedürfnisse nach Anerkennung, Bestätigung und Liebe, die jedoch erst entstanden sind, weil wir in früher Zeit den Mangel erleben mussten. Diese Bedürfnisse sind Ausdruck unserer Ängste vor einem erneuten Mangel. Nie wieder wollen wir die Kontrolle verlieren über unsere Situation und andere Menschen, denn nie wieder wollen wir erleiden, dass uns etwas vorenthalten wird, was wir so nötig brauchen, wie die Wärme und Geborgenheit im Mutterleib.
Alles negative Streben, Hass und Rücksichtslosigkeit entstehen aus dem erlebten Mangel an Zuwendung und Fürsorge, immer dann, wenn ein Geschehen sich nicht innerhalb der natürlichen Ordnung entfaltet, sondern gegen diese erfolgt, wenn es aus der Ordnung gefallen ist. Diese natürliche Ordnung aber lässt sich wieder herstellen. Selbst die tiefsten seelischen Verletzungen können heilen mit Geduld und Liebe gepflegt.

Was ist es letztlich, was unveränderlich am Grunde jeder Seele liegt? Es sind unsere Fähigkeiten, schöpferisch tätig zu sein und zu lieben. Und diese sind uns allen eigen. Kreativität und Liebe bilden unseren Kern und liegen wie ein Keim in uns, der wachsen will.
Die Liebe an sich, die sich noch nicht an eine Person oder ein Objekt im Außen gebunden hat, tritt als reine Eigenschaft auf und liebt einfach was ist. Ebenso verhält es sich mit der reinen Kreativität. Sie äußert sich ungerichtet, will nichts erreichen, weder zur Berühmtheit ihres Trägers beitragen, noch zum Gelderwerb. Sie ist einfach nur vorhanden und will sich äußern um der Freude willen, der Freude am Sein. Wir beobachten es an kleinen Kindern, die sich völlig versunken im Hier und Jetzt mit einer Pfütze oder mit etwas Sand beschäftigen können.
Können Liebe und Schöpfertum ungehindert fließen, entstehen Glücksgefühle. Um diese zu erleben brauchen wir nichts tun, denn sie liegen einfach in uns. Und das ist es, was in uns wachsen will und über uns hinaus.

Wir sind geboren, um Liebe, Kreativität und Glück aus unserem inneren Kern hinaus wachsen zu lassen.

In unserem gegenwärtigen Gesellschaftssystem sind die Wertungen auf den Kopf gestellt. Geschätzt wird die Materie vor dem Status, der Status vor der Bildung, die Bildung vor dem Tun, das Tun vor den charakterlichen Eigenschaften usw.  Innere Werte wie Liebe, Kreativität und die pure Freude am Dasein werden nicht geachtet und erhalten keine Wertschätzung. Wer einfach lieben kann, lässt sich nicht manipulieren und wer sich aus sich heraus am Sein erfreut, lässt sich nicht zum sinnlosen Konsum verleiten. Wir sind nicht dazu geboren, Knechte und Mägde zu sein, wir werden dazu gemacht.

Unser Bedürfnis nach Liebe, Kreativität und unser Streben nach Glück werden früh in ein System von Abhängigkeiten gepresst und somit nicht mehr als reines Glück, reine Liebe und Kreativität an sich erfahren. Diese inneren Eigenschaften erleben wir nur noch gebunden an Objekte, die wir haben wollen und Ziele, die es zu erreichen gilt, die uns suggerieren, dass wir etwas unter Kontrolle haben und besser sind als andere. Diese Gebundenheit lässt uns im Sinne des Systems funktionieren, in dem wir leben.

Es ist ein hoher Preis, den wir zahlen, um Teilhaber und Nutznießer der Gesellschaft zu sein, ein zu hoher Preis, für den wir ausschließlich Ersatzbefriedigungen erhalten, die süchtig machen und keine wirkliche Befriedigung bringen. Glück und Liebe und Kreativität in reiner Form sind uns verloren gegangen. Daraus folgen Verzweiflung und Depression. Doch alles ist weiterhin vorhanden, im Kern unter allen Häuten. Wir können es neu entdecken und zum Wachsen anregen. Nichts ist für immer verloren.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Gringo (60)
(12.05.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Ganna meinte dazu am 13.05.14:
...die unsere Gesellschaft scheint geradezu darauf angelegt, die inneren Werte des Menschen früh zu zerstören...und bis ins Alter darauf aufzupassen, dass die positiven Werte sich nicht regen, um doch noch zur Geltung zu kommen...klar...würden Menschen dazu übergehen, sich aus reiner Lust am Leben zu freuen, wären sie nicht mehr depressiv und verzweifelt, dann wären sie frei und bräuchten diese "Spiele" nicht mehr mitzumachen...

...wie gut, dass Du den öffentlichen Dienst verlassen konntest,
LG Ganna

 LotharAtzert (12.05.14)
Ich verbeuge mich vor Dir nicht zum ersten mal - und sicher auch nicht zum letzten mal.
OM TARE TU TARE TURE SVAHA

 Ganna antwortete darauf am 13.05.14:
Danke Lothar, es ehrt mich und freut mich...

 Jorge (13.05.14)
Die Häute der Zwiebel als Metapher des Wertegefüges unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Eine reizvolle Gedankenfolge, der man schnell zustimmen kann.
Ob Kreativität und Liebe im Kern bei allen Menschen gleichermaßen als Anlage vorhanden sind, ob die dritte oder vierte Haut für die Persönlichkeitsentwicklung nicht doch eine größere Bedeutung haben, wer kann das schon mit Sicherheit sagen?
Liebe Grüße
Jorge

 Ganna schrieb daraufhin am 13.05.14:
...mein Glaube an die Menschen beruht auf meiner Überzeugung, dass in jedem Menschen das Gute angelegt ist...und immer entwicklungsfähig bleibt, auch dann, wenn es gar nicht so scheint...

...ich danke Dir,
LG Ganna
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram