Verortung

Essay zum Thema Orientierung

von  LotharAtzert

"Im Osten geht die Sonne auf;
- im Süden ist ihr Mittagslauf;
- im Westen will sie untergehn;
- im Norden ist sie nie zu sehn."

Dise einprägsamen Sätze beschäftigten mich als Knabe in der Folge mehr, als alles, was in den anderen Fächern der Schule für Erstklässer gelehrt wurde - das ABC mal ausgenommen. Ein Mensch, so fiel mir damals auf, konnte sich hinbewegen, wohin er wollte - es blieb der Osten immer im Osten, der Süden im Süden ... usw. usf. Das war also unsere sogenannte Orientierung: der Osten ... der Orient, wo die Sonne die Nacht vertreibt. Doch nicht genug damit - mit Himmelsrichtung und Sonne verbunden zeigen sich die entsprechenden Erscheinungen auch als Qualitäten: im Gegensatz zum warmen Süden steht die kalte Kristallisation des Nordens. Nordseiten sind mit denjenigen Pflanzen bewachsen, die anspruchsloser sind und kälteresistent, wie die grünen Moose und Flechten, die gerade im extremen Schatten erst richtig gedeihen. Wobei: wie so eine Flechte richtig gedeiht, ich kann es mir nur vorstellen, wie tief das Leben im Kargen dort tief schläft.
Ganz anders, was südwärts wächst und hungrig nach Wärme sucht, dafür sich in üppigem Wuchs mit bunten Farben ergießend. Und auch alle jene anziehend, die sich gern verlocken lassen: Bienen, Schmetterlinge, Vögel, Menschen ...
Daß dies bei Menschen ähnlich ist, erschloss sich mir eines Tages in den Bergen der Steiermark, wo wir einst Ferien machten. Dort saß ich einmal auf einer Bergwiese im schönsten Sonnenlicht und blickte vor mich hin. Tief unten lag das Tal und auf der anderen Seite wieder kroch ein Berg empor, der dem Betrachter von hier seine Nordseite zeigte. Sie lag völlig im Schatten und ich dachte in meinem Knabeneifer "Wärst du jetzt dort, wäre es wohl nicht so angenehm warm."

Auf diesem Berg befand sich in halber Höhe, genauso wie hinter mir, ein Gehöft, in dem Menschen ganzjährig lebten. Doch während die auf der hiesigen Südseite den ganzen Tag  oder doch die längste Zeit die Sonne mit all ihren Verlockungen genießen konnten, das Haus stets voll zahlender Gäst hatten und alles üppig wuchs, hatten die dortigen wenig bis garnichts davon. Es konnte also auch unerbaulich sein, in schönster Gebirgslandschaft ein Anwesen zu haben, wenn es sich um die Nordseite  handelte.
Es sei denn, es sei denn, so schloß ich weiter, man hat ein Schicksal im Dunkeln zu leben aufgegeben bekommen, durch enstsprechende Anlagen vielleicht, wie Bergziegen, oder Schneegänse Dunkel und Kälte aufsuchen ... Aber selbst dann würde das Leben auf jeden Fall entbehrungsreicher verlaufen. Und daß solches nicht den Charakter prägen solle, schloß mein Verstand, der noch ein frommes Kind war, rasch aus.
Schnell vergaß ich die Gegenwart und machte mir weitere Gedanken über die auf der anderen Talseite. Würden jene, die zwar anspruchslos weilten, aber doch Ansprüche stellten, nicht diesen Ort so schnell, wie möglich verlassen wollen?  Ein Ort, der gewiß Gicht und Rheuma förderte, wie es die älteren Generationen behaupteten.
Gewiß würden sie das, und sie würden bei der nächsten Ortswahl streng auf die Südlage achten.
Doch um sie sich, die begehrtere Lage also, leisten zu können - welche Strapazen nimmt einer auf sich? Wie weit geht jemand in seiner Suche nach Wärme, nach der Sonnenseite des Lebens?
Gut, soweit dachte ich damals noch nicht. Aber inzwischen umso mehr: Wird nicht gerade dort der aufrichtige Denker weilen? Der Asket unter den Denkern würde dort ungestört weilen, sieht man von Böcken und Schneegänsen ab!

Die "berüchtigte" Eigernordwand fällt mir ein, wo mancher Schicksalsverweigerer sich abmüht, sie stellvertretend zu bezwingen. Ach ja, der Zwang, der Pluto und der Faust.
Die Eiger - ein eigentlich von drei Seiten her unbedeutender Berg. Die's auf die Sonnenseite geschafft haben, die Südler, können vom Hotel aus im Liegestuhl und mit Champagnerflöte in der Hand zuschauen, wie der andere da, der ehemalige Hotelboy aus Finstertal in der Nordwand hängend um sein Leben kämpft. Und Baroness von und zu Krankenfort ihrer Freundin ein Grußkärtchen schickt "Wir sind hier vor Ort und genießen die grandiose Kulisse!"


Ende Teil I

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (12.05.14)
Nordic Walking
Nun gut, der Text hat nichts mit den klappernden Stöckegehern zu tun, sondern nur mit Häusern auf der Nordseiten von Bergen. Hmm, erscheint mir etwas zu dünn, zumal die Alpen quasi nur für den Sizilianer weit im Norden sind...

 LotharAtzert meinte dazu am 12.05.14:
Dieter, ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll - ich schrieb von der Dürftigkeit des Nordens, wo gewisse Arten allerdings - in Entsprechung zum Dürftigen - besser gedeihen (Asketen, Schneegänse etc.) und wie die, die dieses Schicksal durch ihre Geburt haben, es aber nicht annehmen, weil sie "Ansprüche" ans Leben stellen, in der Eigernordwand rumkraxeln müssen (von den Alpen ist gar keine Rede), als Zeichen ihres Verdrängens (ist nur ein Beispiel) nur, um doch noch irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Dir das, der Du höchstwahrscheinlich in einem südlichen oder westlichen Zimmer geboren wurdest und Ansprüche an den Text stellst, "zu dünn" ist, kann ich es nicht ändern. Das Stöckchen-Nordicwalken hat ebenfalls mit der Nichtannahme zu tun - ich dachte, da käme der Leser selbst drauf.
Auf Sizilien gibt es im Übrigen auch vier Himmelsrichtungen, ja sogar direkt an den Polkappen - Du bist, wie mir scheint, ein zur Vereinfachung neigender Leser, der gern dem Schreiber, der nicht Deiner Norm entspricht, Schwächen unterstellt - hoffentlich brauchst Du das nicht, um Dich selbst zu erhöhen.
Aber gut, mir solls recht sein ...

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 12.05.14:
Ich würde eher sagen, ich war von Deinem Text überfordert.
Für mich Wald- und Wiesenleser wohl tatsächlich zu subtil. Erhöhen tut mich das leider nicht...

(Die Alpen sind zwar nicht explizit genannt, aber die Eigernordwand liegt ja in diesem Gebirge)

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 12.05.14:
Selbst auf die Gefahr, Dir auf den Senkel zu gehen, muß ich nochmal intervenieren: (aber ich glaub, Du bist Wassermann? - egal ...)
Die Eiger ist zwar ein Berg in den Alpen, doch geht es nicht um die geografische Lage, sondern um die Nordseite - das hätte sogar auf dem Südpol Gültigkeit, denn auch dort hätte der Iglo, die Station oder was auch immer eine Nordseite. Einfacher gehts doch garnicht mehr - nordic walken eben. Es geht um innere Befindlichkeiten, die an jedem Wohnort Gültigkeit haben. Wo immer man ist, gibt es vier Richtungen (und als 5. den Ort, an dem man weilt) - und eben da ist der Norden immer um eine Nouance karger, kühler, aufs Notwendige beschränkt. Und wer dies nicht annimmt, der wird scheitern und wer mit der Kraft des Nordens sich arrangiert, dem gibt sie Widerstandskraft.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 12.05.14:
Achso. Okay.
Noch jemand hier, der das nicht auf Anhieb kapiert hat?
BabetteDalüge (67)
(12.05.14)
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 LotharAtzert ergänzte dazu am 12.05.14:
... kabudd gange, ausrobbe ...

 Ganna (17.05.14)
...interessante Gedankengänge, hat doch alles seinen Sinn und so mancher wird seine schattige Lage auch lieben...

...meine Hütte liegt am Nordhang und wird nur früh sonnig beschienen, zum Glück aber kann ich den Nordhang zu Fuß verlassen und finde mich ein Stückchen weiter im sonnigen Garten wieder...

 LotharAtzert meinte dazu am 18.05.14:
Ja, als Steinbock liebe ich Eisblumen fast mehr, als die Akelei. Aber eine Hütte am Nordhang, da empfängst Du die Härten des Winters ganz besonders ... mein Respekt vor Dir wird immer größer ...

Mir ist gerade das Hexadezimalsystem - das Zählen auf 60 - in den Sinn gekommen: im alten Babylon haben sie es wahrscheinlich zuerst entdeckt. Durch dieses wurde alle Orientierung erst möglich, die Zeitrechnung, die 360° etc. etc.

 Ganna meinte dazu am 24.05.14:
...das Zählen auf 60 lässt sich wohl auf das Zählen der Fingerglieder zurückführen, daher auch das Dutzend... praktisch natürlich zur Einteilung des Kreises...

(ich muss der Feuchtigkeit und Kühle wegen schon im Oktober beginnen zu heizen...das machts aber gemütlich...)
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