Oktober 2015, Ich lese zwei Zeitungen vom Oktober 1943, darin ein Aufsatz von Dr. Joseph Goebbels in der Wochenzeitung „Das Reich“: „Die günstigsten Aussichten zum Sieg liegen offen. Wir müssen nur Mut, Intelligenz, Ausdauer und Standhaftigkeit aufbringen, um sie wahrzunehmen.“
Eine Todesanzeige (von vielen) in der Deutschen Allgemeinen Zeitung: „In den harten Abwehrkämpfen in Italien starb auch unser letztes Kind mit 20 Jahren den Heldentod …“
Ein junger Mann stirbt und der Verbrecher lebt.
1944
Posen: Zweimal hatte ich, so wurde mir gesagt, Glück. Einmal kündigte sich der Herbst mit erstem Nebel an. Die Tiefflieger konnten nicht starten und ihre Bombenlast auf Züge und Menschen abladen. Mein Vater, meine Mutter, mit meiner Schwester schwanger, warteten mit mir und meiner älteren Schwester auf den Zug, der uns nach Westen bringen sollte. Nur weg hier. Gepäck? Was kann man mit zweieinhalb Kindern tragen? Wir saßen schon im Zug, als die Bahnpolizei (oder war es die SS?) alle Männer unter 60 aus dem Zug holte. Unruhe, alles musste schnell gehen. Die Kinder spürten die Bedrohung und schrien. Im allgemeinen Durcheinander lief mein Vater zu den Post- und Gepäckwagen am Ende des Zuges und versteckte sich hinter Akten und dem Gepäck der Parteigenossen. Er blieb unentdeckt bis Berlin und meine Mutter weinte vor Freude, als er unerwartet vor ihr stand. Was für ein Glück.
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Die Hässlichkeit des Nordbahnhofs ist ihm nicht aufgefallen, verständlich, wenn man sich zum ersten Mal verabredet. Sie kommt tatsächlich an diesem Spätnachmittag im Juni, steigt aus dem Zug aus, lächelt, sagt etwas Unwichtiges: „Wartest du schon lange?“
Die Verabredung am Samstag endete mit ihrer Bemerkung: „Du bist ja blau.“ Er hatte auf dem Sommerfest seines Leichtathletikvereins zu viel getrunken. Es gab einen Anlass. Am Nachmittag wurde er Vereinsmeister im 100-Meter-Lauf, immerhin in 11,2 Sekunden. Die Folge war Freibier und der Mut, sich mit dem schwarzhaarigen Mädchen zu verabreden.
Jetzt steht sie neben ihm, und ihre Augen sagen: was nun? Da von ihm nichts kommt, gehen sie einfach Richtung Stadtpark und er bemerkt, dass sie einen Fuß nachzieht, für alle sichtbar. Sie setzen sich zu den anderen auf eine Wiese und erzählt, wie alles gekommen ist, das Bier, die Einladung ihrer Freundin zum Sommerfest der DJK. „Nur Läufer, Springer und Werfer kommen“, sagte sie.
Einmal entsteht eine Pause. „Ich heiße gar nicht Lilly, sondern Lluviagata – ein Zungenbrecher.“ – „Luvicata“ – „Falsch, du musst noch üben.“
Am nächsten Samstag treffen sie sich im Waldstadion nach dem Training. Sie gehen Richtung Wald. Er führt, und einmal müssen sie über einen Bach springen. Er reicht ihr die Hand, die er dann nicht mehr loslässt.
Nach dem ersten Kuss erwähnt sie, dass er soeben eine halbe muslimische Bosniake küssen durfte, worauf er antwortet, dass sie eben den schnellsten Läufer eines katholischen Sportvereins geküsst hat.
Dann erzählt sie ihre Geschichte: „Ich komme aus Bosanski Petrovac, ein Städtchen im heutigen Bosnien, nahe der kroatischen Grenze. Meine Mutter war Muslimin, mein Vater Christ. Sie waren Korbflechter, so wie fast alle in der Stadt. Korbsessel aus Petrovac, hast du schon einmal davon gehört? Etwas ganz Besonders! Man lebte und liebte zusammen, dann kam der Bürgerkrieg, Gebietsansprüche, plötzlich saßen wir zwischen den Stühlen, Hass, Gewalt. Deshalb sind wir ausgewandert. Seitdem haben sich meine Eltern von ihrer Religion verabschiedet. Mitten im Bürgerkrieg wurden seltsamerweise viele Kinder in unserer Kleinstadt krank, so auch ich. Ein Bakterium breitete sich aus, ein Nachbarjunge starb, mein Bein entzündete sich, aber es gab einfach kein Antibiotikum mehr im Ort und die Reise in die Nachbarstadt war lebensgefährlich. Eine Sprinterin werde ich wohl nie.“
An einem Sonntag im Oktober landet er bei der Kreismeisterschaft nur auf dem vorletzten Platz. Dafür aber später in ihrem Bett. Nach der Liebe macht sie sich über die deutsche Sprache lustig:
„Dein schöner Glied
Deines schönen Gliedes
Deinem schönen Gliede
Deinen schönen Glied
Was soll das? Wer hat das erfunden? Seid ihr wahnsinnig? Warum ändert man das nicht?“ – „Es heißt das Glied, ein Neutrum.“ – „Wow, noch verrückter! Jedna noc sa tobom je ko dan, bila sam vesela, a ti ne sam.“ – „Und was heißt das?“ – „Möchtest du es wissen? Es kommt das Wort Geschlechtsverkehr vor, ein schreckliches Wort. Komm, ist aber ein schönes deutsches Wort, komm näher!“ Er dreht sich zu ihr, und sie legt ihr schwaches Bein auf sein starkes.