Diesmal nicht

Erzählung zum Thema Einsamkeit

von  Seelensprache

Ich gehe spazieren. Kurve um Kurve geht es hinauf auf die Anhöhe über der Stadt. Laub verschiedenster Form und Farbe säumt den Weg. Ein wenig Nässe der letzten Tage liegt verstreut hier und dort in den schattigen Stellen. Ich mag es, wenn meine Füße in die bunten Blätterhaufen eintauchen. Ich mag es, sie davon zu stoßen. Es ist ein sonniger Novembertag. Der Wind bläst überraschend warm, greift unter das Haar und wirbelt es durcheinander. Schritt für Schritt erklimme ich die Anhöhe, die sich Biegung für Biegung immer weiter nach oben zieht. Ich blinzle in die Sonne, die mir mitten ins Gesicht scheint. Welch stilles Glück in diesen kleinen Momenten liegt.
In mir aber ist Einsamkeit. Ich versuche ihr Herr zu werden, ihr keinen Raum zu geben und so zu tun, als sei sie nicht. Ich gehe weiter. Ich meide die Blicke derer, die mir entgegenkommen. Jede Begegnung macht es ein wenig schwerer, wühlt auf und fordert ein Recht. In jeder liegt ein möglicher Kontakt, eine andere Zukunft und ich spüre die Anstrengung, der Sehnsucht keinen Raum zu machen.
Oben, auf dem Hügel angekommen, überblicke ich die Stadt, die links und rechts und rundherum zu meinen Füßen liegt. Ich gehe in Richtung Turm, der sich zwischen Bäumen und Sträuchern hervorstreckt. Davor angekommen, blicke ich an seinem alten Mauerwerk hinauf. Am Geländer oben steht ein Paar, das sich noch einmal küsst und dann herabsteigt. Ich gehe die Stufen hinauf. Auf der Plattform oben, geradeaus, mit dem Rücken mir zugewandt, erblicke ich eine junge Frau, die ganz allein auf der hüfthohen Ummauerung sitzt. Ihr langes nussbraunes Haar und der dünne Schal an ihrem Hals flattern im Wind. Ihre Beine hat sie an sich herangezogen und mit ihren Armen umschlungen. Sie blickt hinab in den Kessel, der sich von hier oben weit zwischen den Ausläufern der Berge in die Ferne zieht. Sie ist schön. Mein Herz schlägt schnell. Es pocht und ich spüre es von innen stark an meine Brust schlagen. Ich komme mir plötzlich unbeholfen und klein vor. Ich stehe noch immer hinter ihr, einige Meter sind zwischen uns. Ich gehe unsicher umher, schaue hinunter ins Tal, aber sehe nicht mehr als die Nervosität und die Unbeholfenheit in mir. Ich spüre das innere Ringen und Niederschlagen meiner Wünsche. "Bleibe fern" und "lieber nicht" warnt es aus mir heraus. Ich schließe meine Augen und mein Gesicht taucht ein in das Leuchten hellglühender Sonnenstrahlen. "Beachte mich!", "Schaue mich!", ruft eine andere Seite in mir. Nach einer Weile, einer gefühlt langen Dauer, schaue ich zu ihr hinüber. Ich bemerke, dass sie mich wahrgenommen hat. "Sag was", "Trau dich", "Komm schon". Ich könnte etwas sagen. Ich wende meinen Blick ab. Ich entscheide mich dagegen und gehe. Diesmal nicht. Es ist sehr vertraut, dieses "Diesmal nicht".

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