Ein Kuriosum politischer Lyrik: Friederike Kempner: Frohe Stunden

Interpretation zum Thema Gerechtigkeit/ Ungerechtigkeit

von  EkkehartMittelberg

Seit dem Scheitern der Neuen Linken (1966-1973) hat Politische Lyrik keine Konjunktur mehr. Ausnahmen wie zum Beispiel Jan Böhmermanns Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan bestätigen als Ausnahmen nur die Regel.
Die sozial engagierten unfreiwillig komischen Gedichte der sog. Schlesischen Nachtigall Friederike Kempner (1828 - 1904) sind ein Beispiel erfolgreicher politischer Lyrik. Sie erreichten 1903, ein Jahr vor ihrem Tode, bereits die achte Auflage.
Die Dichterin, aus einer reichen jüdischen Familie stammend, engagierte sich auf den verschiedensten Gebieten, z.B. gegen soziale Missstände, Vivisektion, Alkoholismus, Luftverschmutzung, Singvogelmord und Einzelhaft auf Lebenszeit. Sie fand Gehör beim Bürgertum und Hochadel. Wilhelm I. bezog sich bei der Abschaffung der lebenslänglichen Einzelhaft und bei der Anordnung mehrtägiger Aufbahrung zwischen Tod und Beerdigung auf sie. Neben der Lyrik schrieb Kempner auch Dramen und Novellen.
Kempners Werk wurde vielfach parodiert. Die von Herrmann Mostar in erster Auflage 1953 herausgegebene Parodien „Friederike Kempner, der schlesische Schwan“ fanden besondere Beachtung.

Hier ein Original aus der Feder Kempners.

Frohe Stunden

Jedes­mal, wenn frohe Stun­den
Mir im Her­zen statt­ge­fun­den,
Haben sich mir vor­ge­stellt
Auch die Lei­den die­ser Welt.
 
Schon, dass gar so sehr ver­schie­den
Unsre Lose sind hie­nie­den –
Goe­the zwar fand nichts dabei,
Doch mir scheint’s nicht einwandfrei!
 
Pilz des Glücks ist die­ser eine,
Jener Stief­pilz des Geschicks;
Einem sind als O die Beine,
Andern wuch­sen sie als X.
 
Sorg­los aalen sich die Rei­chen,
Andern sind die Gel­der knapp,
Und noch ungestorb’ne Lei­chen
Senkt zum Orkus man hinab.

Wisst Ihr nicht, wie weh das tut,
Wenn man wach im Grabe ruht?

Friederike Kempner kämpfte insbesondere gegen soziale Benachteiligung und Ausbeutung. Davon legt Frohe Stunden beredtes Zeugnis ab.
Das Gedicht wirkt durch seine volkstümlichen Bilder („Einem sind als O die Beine/Andern wuchsen sie als X./ Sorglos aalen sich die Reichen (Zeile 11 ff.)
In Wortwahl und Wortbildung zeigt sich auch hier die oben bereits angesprochene unfreiwillige Komik („frohe Stunden [...]stattgefunden“ (Z 1f.; „Haben sich mir vorgestellt/Auch die Leiden dieser Welt“, Z. 3f.; „ Stiefpilz des Geschicks“, Z. 10), unbekümmert um den Anspruch einer feinen Stilistik.
Das gilt auch für die Reime, die teilweise („eine - Beine, Geschicks – X, knapp – hinab) rührend erscheinen.
Aber gerade diese Naivität einer Dilettantin, die sich furchtlos mit dem damals unantastbaren Ruf Goethes anlegte, lässt die inhaltliche Aussage von den sehr verschiedenen Losen so glaubwürdig erscheinen. Man kann Kempners Vokabular nicht einem bestimmten politischen oder ideologischen Lager zuschreiben und das wird es jedem erschweren, die Inhalte zu verwerfen, mögen empfindsame Stilisten sich auch über die Sprache erhaben fühlen.
© Ekkehart Mittelberg, März 2017

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (12.03.17)
Der schlesische Schwan, ich liebe ihn (sie)!
Bei ihr ist das "Naive" einfach köstlich!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.03.17:
Merci, ich freue mich, dass du sie kennst, Tasso. Ich dachte schon, sei sei ganz in Vergessenheit geraten.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (12.03.17)
Ja, naiv wirkt es schon und man kann es darum belächeln. Auch der anderen Seite spürt man beim Lesen die Aufrichtigkeit der Verfasserin und das ihr jeglicher Zynismus fehlt. Letzteres macht ihre Texte angesichts der Großen des Internets für das www natürlich völlig ungeeignet.
(Kommentar korrigiert am 12.03.2017)

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 12.03.17:
Danke, Trekan. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Naive nicht auch im Internet ihre Liebhaber findet.
Sätzer (77)
(12.03.17)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 12.03.17:
Ja, danke, ich bedaure diese Entwicklung genauso wie du.
LG
Ekki
Graeculus (69) äußerte darauf am 12.03.17:
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wa Bash (47)
(12.03.17)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 12.03.17:
Danke, das freut mich.
MarieT (58)
(12.03.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.03.17:
Gracie, Marie, es freut mich sehr, dass wir in der Einschätzung Kempners so übereinstimmen.
Ich fürchte jedoch, dass sich an der mangelnden Konjunktur für politische Lyrik in naher Zukunft nichts ändern wird.
Liebe Grüße
Ekki

 GastIltis (12.03.17)
Ekki, ich finde, dass alles, was sich auf Friederike Kempner bezieht, ein großartiger Text von dir ist. Ob dein zweiter Satz da hinein passt, wage ich ganz vorsichtig zu bezweifeln. Herzlich grüßt dich Giltis.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.03.17:
Merci, Giltis. Ich kann deine Skepsis gegenüber meinem zweiten Satz verswtehen. Er bedeutet nicht, dass ich Böhmermann schätze.
Herzliche Grüße
Ekki

 GastIltis meinte dazu am 13.03.17:
Danke für die Rückmeldung und dein Verständnis. LG Giltis.
Festil (59)
(13.03.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.03.17:
Festil, es ist schön, dass sich unsere Interessen hiier treffen.
Liebe Grüße
Ekki

 blauefrau (16.03.17)
Warum Kuriosum?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.03.17:
Wegen der unfreiwilligen Komik Kempners, die ich zwar sympathisch finde, aber nicht leugnen kann.

 FrankReich (13.06.21)
Hi Ekki,

danke für den Hinweis, ich las bisher immer nur Ausschnitte ihrer Gedichte und nichts gegen Kempners soziales Engagement, mit ihrer "Poesie" allerdings hat sie sich wirklich keinen Gefallen getan.

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.06.21:
Ja, das sehe ich auch so.
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