Epochentypische Gedichte. Goethes Mailied als farbiger Abglanz einer besseren Welt?

Interpretation zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Mailied

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch

Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb', o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft.

Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud' und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!

Quelle: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Stuttgart. J. G. Cottasche Buchhandlung, o. J.

Dieses 1771 entstandene Gedicht ist besonders typisch für die Epoche des Sturm und Drang. Es wird meistens als Beispiel für die von Goethe  geschaffene Erlebnislyrik interpretiert, die sich gegen Konventionen durchgesetzt hat, die den Ausdruck spontaner Gefühle verhindert hatten.
Ich möchte hier eine soziologische Interpretation vorstellen, die es meines Wissens von diesem Gedicht sonst nicht gibt. Dabei erscheint Goethes Mailied als farbiger Abglanz einer besseren Welt.
„In der industriellen Gesellschaft wird die lyrische Idee der sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit, wofern sie nicht ohnmächtig romantisch Vergangenes beschwört, immer mehr zu einem jäh Aufblitzenden, in dem das Mögliche die eigene Unmöglichkeit überfliegt.“ (Theodor w. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft 1963)
Was versteht Adorno unter der „lyrische Idee der sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit“? Lassen wir ihn mit der folgenden Passage aus “Lyrik und Gesellschaft“ noch einmal zu Worte kommen:
"Das Ich, das in Lyrik laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetzes bestimmt und ausdrückt: mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es nicht unvermittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und trachtet sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber wiederherzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das Recht abermals zugebracht werden, das menschliche Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische Gebilde, in die kein Rest des konventionellen und gegenständlichen Daseins, keine krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die unsere Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade der Kraft, mit der in ihnen das Ich den Schein der Natur, zurücktretend von der Entfremdung, erweckt. Ihre reine Subjektivität, das was bruchlos und harmonisch in ihnen dünkt, zeugt vom Gegenteil, vom Leiden am subjektfremden Dasein ebenso wie von der Liebe dazu - ja ihre Harmonie ist eigentlich nichts anderes als das Ineinanderstimmen solchen Leidens und solcher Liebe."
Dieses Zitat kann ein neues Problembewusstsein für die Analyse des Mailieds wecken. Das Gedicht stellt eine unmittelbare Synthese zwischen liebendem Ich, geliebtem Partner und Natur her. Sie wirkt deshalb so überzeugend, weil die menschliche Liebe völlig in den Liebesvorgang der Natur einbezogen wird (vgl. die Strophen 4-8). Das lyrische Ich, von dem Adorno allgemein spricht, ist auch im Mailied mit der Natur eins geworden, und zwar auf dem von ihm beschriebenen Wege durch "Beseelung" und durch "Vermenschlichung der Natur". Die Symbiose kann aber dem Leser des Mailiedes nur deshalb so einleuchten, weil die Spuren "menschlicher Naturbeherrschung", der "Entfremdung" des Menschen von der Natur durch menschliche Eingriffe in diese, fast völlig getilgt sind. Jede Art von Natur, die auslösend für die Gestaltung des Mailiedes gewirkt haben mag, muss schon zur Zeit der Entstehung des Gedichts Spuren menschlicher Eingriffe, "kruder Stofflichkeit", wie Adorno es nennt, aufgewiesen haben, die ihre völlige Harmonie störten. Eben jene disharmonischen Momente, die durch die Abarbeitung des Menschen an der Natur entstehen, hat aber Goethe mit seinem Mailied  getilgt, sodass das Adorno-Zitat auf unseren Untersuchungsgegenstand voll zutrifft,. Der Leser muss sich aber dessen bewusst sein, dass Goethe nur "den Schein der Natur, zurücktretend von der Entfremdung, erweckt". Es spielt hier keine Rolle, ob sich Goethe selbst dieser Sublimierung der Natur im Mailied bewusst war. Tatsache jedenfalls ist, dass er ein so bruchlos und harmonisch dünkendes Gedicht geschaffen hat, dass es nahezu ein Jahrhundert dauerte, bis ein Interpret wenigstens eine Ahnung von dieser Harmonie als schönem Schein artikulierte.  "Ein Stück paradiesischen Lebens  scheint (Hervorhebung vom Verf.) hier wiedergewonnen zu sein." (Staiger, Emil: Goethe. Zürich: Atlantis 1952, Anm. 55, Bd. 1, S.61)
Je deutlicher nun die Eingriffe des Menschen in die Natur, die Deformierung der Natur im Gefolge des Profitstrebens im industriellen Zeitalter auch für den unsensiblen Betrachter werden, desto schwieriger wird es, die lyrische Idee der sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit, des Einsseins von Mensch und Natur, zu verwirklichen, weil immer mehr an kruder Stofflichkeit, an Entfremdung, zu überwinden ist. Dem modernen Betrachter mag das Mailied als ohnmächtige Beschwörung des romantisch Vergangenen erscheinen, als schöner farbiger Abglanz von einer Natur-Mensch-Konstellation, die, verglichen mit der heutigen in einer hochindustriellen Gesellschaft, fast parodistisch anmutet. Um auf das Adorno-Zitat zurückzukommen, "das Leiden am subjektfremden Dasein" schiebt sich für den zeitgenössischen Leser des Mailiedes wohl vor den Enthusiasmus.

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Kommentare zu diesem Text

Terminator (41)
(02.07.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.07.21:
Merci, du hast recht, dass Adorno zu früh dran ist, weil die industrielle Revolution in Deutschland noch nicht begonnen hat. Aber Gedichte, deren Form immer wieder heruntergebetet wird, als befänden sie sich gesellschaftlich im luftleeren Raum, nicht nur werkimmanent, sondern auch soziologisch zu interpretieren, ist den Fehler der Verfrühung wert.

 harzgebirgler (02.07.21)
das frühlingshafte menschliche empfinden
wird durch naturgewalt allmählich schwinden.

lg
henning

"Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,
Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.
Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten
Und über die Götter des Abends und Orients ist,
Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht,
Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder
Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,
Fühlt neu die Begeisterung sich,
Die Allerschaffende, wieder."
(Hölderlin, Wie wenn am Feiertage... [1800])

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 02.07.21:
Gracias, Henning, Hölderlin zu hören, ist immer wieder ein Fest für die Sinne.
Aber wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, dass Naturgedichte allenfalls ein farbiger Abglanz einer besseren Welt sein können.
Beste Grüße
Ekki

 Regina (02.07.21)
wunderschön auch in der gesungenen Beethoven-Vertonung!

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 03.07.21:
Vielen Dank, Regina,
kein Wunder, dass Wunderschönes herauskommt, wenn sich ein Genie des anderen annimmt.

Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (02.07.21)
Was Du am Ende schreibst, kann ich nur voll unterschreiben. Habe mich ruhig und gefasst durch Deinen Text gearbeitet. Sehr lesenswert. LG

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 03.07.21:
Vielen Dank dafür Armin, dass du dir Zeit für diesen nicht ganz einfachen Text genommen hast.

LG
Ekki

 AchterZwerg (03.07.21)
"Durch Wörter und Beschreibungen wie „herrlich leuchtet“ (V. 1), „glänzt“ (V. 2), „golden-schön“ (V. 14) und „Himmelsduft“ (V. 28) wird eine positive, warme und fröhliche Stimmung erzeugt. Die für Goethe so typischen Ausrufe „O Erd‘! O Sonne! O Glück! O Lust! O Lieb‘! O Liebe!“ (V. 11-13) vermitteln eine gewisse Ausgelassenheit, die dem lyrischen Ich die Worte zu rauben scheint. Die wenigen Wörter vermitteln die starken Glücksgefühle des lyrischen Ichs. Die drei Verse kann man außerdem als Klimax verstehen. Dies zeigt die Verbindung von Natur und Liebe, mit der im ganzen Gedicht gespielt wird."

Aus: Kultürlich

Die Verbindung von Liebe und Natur ist so neu nicht, lieber Ekki. - Bekanntlich war dem jungen Goethe (er schrieb dieses Gedicht ja als Jurastudent) "fortschrittliches" Denken durchaus nicht fremd.
Da die Industrialisierung zu jener Zeit jedoch noch nicht sonderlich weit vorangeschritten war, handelte es sich aus meiner Sicht eher um den Wunsch der Erweiterung individueller zur allgemeinen Menschenliebe:

"Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!"

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 03.07.21:
Grazie, Piccola, ich schließe mich deiner Deutung gerne an. Mir geht es hier freilich primär um die soziologische Deutung Adornos.
Ich habe leider nach Terminators berechtigtem Einwurf, dass Goethe 1771 mit den Folgen der industriellen Revolution noch nicht konfrontiert war, zu früh eingelenkt. Es kommt mehr darauf an, unter welchen Einflüssen wir Goethes Gedicht heute lesen als unter welchen Bedingungen er es damals geschrieben hat. Und heute schieben sich die Folgen der Industrialisierung vor den ungebrochenen Naturgenuss. Mit Blick auf die heutige Rezeption hat Adorno recht, dass das Mailied als farbiger Abglanz aus einer besseren Welt erscheint.

 AchterZwerg meinte dazu am 04.07.21:
Seinerzeit handelte es sich eben nicht darum.
Aus meiner Sicht ging es damals eher um die sog. "bearbeitete Natur", die sich zwar den romantizistischen Gefühlen des jungen Goethe in den Weg stellte, sonst aber gern gelitten war (Beispiel: Weinanbau). - Heute wird auch diese Billigung zuweilen infrage gestellt.

Ganz anders ergeht es mir mit deinem Geburtstag, zu dem ich dir gern und von Herzen gratuliere.

Einen schönen Tag wünscht
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.07.21:
Hallo Piccola,
wahrscheinlich hast du recht, dass der junge Goethe von 1771 selbst die bearbeitete Natur als störend empfand.
Vielen Dank für deine Glückwünsche.
Liebe Grüße
Ekki

 Willibald (03.07.21)
Grüße Dich, Ekki, anregend und herausfordernd der Ansatz. Ich denke, deine These könnte sich der Antithese stellen: Das was hier scheint, muss kein Trugbild sein. Kaum irgendwo wird ein natürliches, präreflexives Leitmotiv des menschlich-animalischen Bewusstseinsc so intensiv abgerufen und lebendig wie im Verliebtsein mit all seinen Facetten.

Ob hier die Industrialisierung erhebliche Dämpfungen zeitigt, ist zu fragen. Der Enthusiasmus des Liebens und seine gewisse Widerständigkeit in gesellschaftlichen Normen dürfte sich bei aller Libertinage der Neuzeit perennieren.

Die Neuen Leiden des jungen Werther von Plenzdorf sind mir in Erinnerung. Die Positionierung der Mädchenstrophe im Mailied (5-4), scheint mir ebenfalls aufschlussreich. Genauso wie der Osterspaziergang samt den Bauern unter der Linde im Faust .

Kommentar geändert am 03.07.2021 um 20:51 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.07.21:
Hallo Willibald
du hältst das These-Antithese-Spiel sehr geschickt aufrecht. Ich denke, wir können uns darauf verständigen, dass das, was hier scheint, kein Trugbild sein muss. Merci und LG
Ekki
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