Epochentypische Gedichte. Mathias Claudius: Kriegslied

Interpretation zum Thema Krieg/Krieger

von  EkkehartMittelberg

s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!


Matthias Claudius hat dieses Gedicht, das im Voßischen Musenalmanach für das Jahr 1779 veröffentlicht wurde, 1778 geschrieben. Es ist typisch für die literarische Strömung der Empfindsamkeit 1740-1790.

Für das Verständnis des Kriegslieds reicht die folgende kurze Charakterisierung der Empfindsamkeit aus:

Die Epoche der Empfindsamkeit ist eine Literaturströmung, die sich zur Zeit der Aufklärung entwickelte. Die meisten literarischen Vertreter waren junge Schriftsteller aus dem Bildungsbürgertum. Sie reagierten mit gefühlsbetonten literarischen Formen auf den vorherrschenden Vernunftgedanken.

Im Gegensatz zum Sturm und Drang, der sich der Aufklärung entgegenstellte, ergänzte die Empfindsamkeit die rationalen Ansichten der Aufklärung, indem sie das Gefühl und das Empfindsame als gleichwertig zum Verstand ansah. [...]

Empfindsamkeit Definition

Die Empfindsamkeit war eine Literaturströmung, die in Deutschland den Zeitraum zwischen 1740 und 1790 umfasste. Junge Bildungsbürger strebten ein gefühlsbetontes, sentimentales, naturverbundenes und frommes Weltbild an, das das Gefühl und die Empfindung mit der Vernunft und dem Rationalismus der Aufklärung gleichstellte. [...]

Steckbrief Empfindsamkeit – Merkmale im Überblick

  • Zeitraum: 1740-1790

  • Einordnung: parallel zur Aufklärung und zum Sturm und Drang

  • Geschichte: Deutsches Reich aus kleinen Einzelstaaten wird allmählich zentraler verwaltet, selbstbewusstes Bürgertum, Reaktion zur Aufklärung

  • Weltbild: Emotionen genauso wichtig wie Vernunft, Auflehnen gegen gesellschaftliche Ordnung, adelige Vormachtstellung und Fremdbestimmung werden hinterfragt, individuelles Empfinden als Maßstab für Handeln und Persönlichkeit, individuelle Frömmigkeit (Pietismus)

  • Themen: Gefühle, Naturverbundenheit, Frömmigkeit, Freundschaft, Nächstenliebe

  • Literatur: Lyrik am beliebtesten, aber auch Dramatik und Epik

  • wichtige Vertreter: Klopstock, von La Roche, Claudius, Hölty, Voß“

    Quelle: Empfindsamkeit (Epoche) • Literaturströmung einfach erklärt · [mit Video] (studyflix.de



Interpretation

Keines unter den namhaften Kriegsgedichten berührt mich so wie dieses. Es geht mir so nahe, weil der Autor Matthias Claudius noch in der Lage war, Krieg aus einer naiven Religiosität zu sehen.

Selbst unter überzeugten Christen wird es heute nur noch wenige geben, die glauben, dass Gottes Engel zum Beispiel Putin einfach in den Arm fallen und ihm darein reden könnte, damit er den Krieg einstellt.

Und Hand aufs Herz: Wer, wenn er nicht eine hochbedeutende politische Funktion hätte, käme heute noch auf den Gedanken, dass er an einem Kriege persönlich schuld sein könnte? Heute werden die Ursachen für Kriege viel abstrakter in ökonomischem oder religiösen Denken gesucht oder in persönlichem Machtstreben einflussreicher Autokraten. Wer aber verfiele auf die Idee, dass er, der Durchschnittsbürger, mit seiner Trägheit des Herzens und Denkens an einem Krieg schuldig sein könnte?

Wer, dem die Bilder des Grauens und Leidens eines Krieges durch die Massenmedien bequem vor den Bauch getragen werden, strapaziert seine Fantasie so sehr, dass er die Geister der Erschlagenen auferstehen lässt, dass er wie auf einem Bild von Hieronymus Bosch fluchende Verstümmelte in Todesnot vor sich sieht, dass er sich, personifiziert in Väter, Mütter und Bräute, Tausende von Einzelschicksalen vor Augen führt, dass er sich von allen Schrecken des Krieges, auf einer Leiche versammelt, angekräht fühlt, dass er sich vorstellt, er würde aus Besitzstreben und falschem Ehrbegriff Krieg führen? Das Gedicht ist so anrührend, weil die meisten modernen Menschen, Meister des Verdrängens, niemals persönliche Schuld am Krieg in Erwägung ziehen würden.


Dieses schlichte Gedicht von Claudius nimmt gefangen, weil die Mittel der Rhetorik, obwohl es artifiziell durchkomponiert ist, als solche kaum in Erscheinung treten, zum Beispiel das imposante Bild vom Engel Gottes, der über dem Krieg schwebt, in der 1. Strophe, das Bild von der Heimsuchung im Schlaf (II), die Alliteration „blutig, bleich und blass“ in II,2, das Bild von den weinenden Geistern der Erschlagenen in II,3,4, die rhetorischen Fragen von der 2. bis zur 6. Strophe, das ungeheure Bild von verstümmelten Halbtoten, die sich im Staube wälzen und dem LyrIch fluchen (III), die Veranschaulichung der Wehklagenden als Väter, Mütter und Bräute (IV), das schockierende Bild der Anklagenden, die umgangssprachlich von einer Leiche herab krähen (V) und schließlich die über Jahrhunderte hinweg gleich bleibenden Kriegsgründe Macht- und Besitzstreben sowie die Wiederaufnahme des Leitmotivs, nicht schuld am Kriege zu sein in der letzten Strophe.


Wir sind es nicht mehr gewöhnt, dass ein Autor auf intellektuelle Distanz zu seinem Motiv verzichtet und seine Empfindungen ganz unverstellt ausspricht. Das macht den Reiz dieses einfach erscheinenden Kriegsgedichts aus, das mit seiner volksliedhaft schlichten Form Kriegslied betitelt ist.




Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Regina (20.03.22, 04:50)
Mal wieder eine gelungene Interpretation mit Informationen zu Stilrichtung und Geschichte von dir, heute mit aktuellem Bezug.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 10:39:
Merci, Regina, leider hat auch Lyrik über den Krieg eine lange Tradition.

 TrekanBelluvitsh (20.03.22, 05:00)
Ich habe den Eindruck, dass Claudius mit dem Begriff "Schuld" hier eigentlich dass meint, was wir heute konkreter "Kausalität" nennen. Denn selbstverständlich trägt z.B. der einfache Soldat, der Kaufmann oder der Polizist keine verantwortliche Schuld an einem Krieg. Doch wer z.B für einen Aggressor kämpft, dieser Seite Nachschub verkauft oder dafür sorgt, dass es in der Heimat auch ruhig bleibt, trägt das System des Aggressors mit. (Welche Möglichkeiten zu nicht-konformen-Handeln der Einzelne in so einem System hat, ist eine andere, nicht ganz einfache Frage.

Und da Claudius die Frage nach der Schuld am Ende wiederholt, scheint die Frage der Kausalität sich zumindest seiner langsam zu bemächtigen. Was auf ein Zusammenspiel von Gefühl und Vernunft hinweist und nicht allein auf die blinde Herrschaft des einen.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 20.03.22 um 10:45:
Gracias, Trekan, der Begriff der Kausalität ist hier hilfreich. Mancher ist sich gar nicht bewusst, in welchem Maße er durch seine Tätigkeit das System eines Aggressors unterstützt.
Taina (39)
(20.03.22, 07:20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 20.03.22 um 10:57:
Grazie, Taina, du hast scharfsinnig beschrieben, wie die Kollektivschuldfalle funktioniert. Man sollte auch genau hinsehen, welche fragwürdigen Helfer mit ihr in die eigene Tasche wirtschaften.
Darf ein guter Christ Putin den Blitz an den Hals wünschen?  :D
Taina (39) äußerte darauf am 20.03.22 um 11:45:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Quoth (20.03.22, 12:35)
Hallo EkkehardMittelberg, ein überragendes Gedicht hast Du da hübsch schubladisiert und in die Epoche der Empfindsamkeit weggesteckt. Trotz des Engels behauptet es sich neben Brecht und Max Frisch. Aber vielen Dank, dass Du an es erinnert hast! Gruß Quoth

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 20.03.22 um 16:03:
Danke, Quot, aber ist meine Interpretation wirklich so lieblos, dass du von schubladisieren und wegstecken reden kannst? Ein Werk verliert nicht dadurch an Wert, dass man es einer Epoche zuordnen kann.
Gruß
Ekkehart

 harzgebirgler (20.03.22, 13:08)
die augen hat der westen lang verschlossen
vor putin dem wer voll ins hirn geschossen -
die krim hätt' sollen schon ein weckruf sein
denn nun fiel voll das kind in' brunnen rein!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 16:18:
Vielen Dank, Henning, leider gehört Putin in eine erschreckende Reihe inhumaner Aggressoren.
LG
Ekki

 Graeculus (20.03.22, 13:41)
Dieses hervorragende Gedicht paßt ja nun sehr gut in die gegenwärtige Lage (es paßt überhaupt unangenehm häufig in der Menschheitsgeschichte). Gut, daß Du es vorgestellt und durch Deine fachkundige Interpretation erschlossen hast.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 16:22:
Gracias, Graeculus, wenn du zu meinen Kommentatoren gehörst, weiß ich, dass ich nicht ganz falsch gewählt und argumentiert habe.
Dieter Wal (58)
(20.03.22, 14:53)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 16:32:
Wie schön, Dieter, dass du, der ganz besonders Belesene dieses Gedicht auch für einen der besten deutschsprachigen Kriegstexte hältst, Grazie
Ekki

 AZU20 (20.03.22, 15:09)
Dazu kann ich nur sagen: Gut, dass Du Dir so viele Mühe gegeben hast, lieber EKKI. Ich lerne dazu. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 16:36:
Merci, Armin, solange wir von einander lernen können, hat dieses Forum seinen Zweck erfüllt.
Liebe Grüße
Ekki

 GastIltis (20.03.22, 17:52)
Lieber Ekki,
als ich den Text ganz früh schon einmal las, noch fast im Halbschlaf, dachte ich so bei mir, er könnte in seiner ungeheuren Aussagefähigkeit auch allein für sich stehen. Nun habe ich, hellwach, alles von vorn bis hinten mir noch einmal zu Gemüte geführt. Es ist schon so, wer sich die Mühe gibt, sich so ausführlich und gründlich mit einem derart komplexen Stoff zu befassen, sollte auch erfahren dürfen, dass diese Mühe, dieses Gefühl, etwas geben zu müssen, nicht umsonst war. Ekki, es ist nicht nur die außerordentliche Sachlichkeit, sondern auch die profunde Kenntnis, die deine Zeilen aus vielen Texten und Beiträgen heraus ragen lassen. Man kann froh sein, bei allem Hin und Her der Meinungen für und wider die handelnden Personen und deren Interessen, die Klarheit und Besonnenheit erfassen zu können, die du zu vermitteln in der Lage bist. Ich freue mich für uns, dass du diese Schwierigkeit so glanzvoll beherrschst, dass eigentlich jeder, der guten Willens ist, alles gut verstehen sollte und in der Konsequenz etwas für sich an Erkenntnisgewinn mitnehmen, verarbeiten, überdenken kann. Ich werde es tun und hoffe, dass du noch viele solch denkwürdiger Glanzstücke liefern kannst.
Herzlich wie immer grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.22 um 20:05:
Gracias, Gil, ich werde mir weiterhin große Mühe geben, um mich deiner Anerkennung würdig zu erweisen. Ich weiß es auf jeden Fall sehr zu schätzen, mich mit wohlmeinenden Liebhabern der Literatur wie du es bist austauschen zu dürfen.
Herzliche Grüße
Ekki

 AchterZwerg (21.03.22, 07:03)
Die Schuldfrage stellt sich leider immer wieder.
Denn auch der Schweigende macht sich schuldig, selbst der, der den Kriegsdienst verweigert. -
Ein aussagestarkes, brandaktuelles Gedicht, das eine formidable Interpretation erhält.

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.03.22 um 11:29:
Vielen Dank für deine Würdigung, Piccola. Als ich sieben Jahre alt das Ende des 2. Weltkriegs erlebte, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Schuldfrage aktuell bleiben würde.
Liebe Grüße
Ekki

 TassoTuwas (21.03.22, 10:50)
Hallo Ekki,

Empfindsamkeit, auch so ein Wort, dass in der modernen Sprachwelt kaum noch Platz findet.

Bin gern deinen Gedanken gefolgt.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.03.22 um 11:33:
Merci, das stimmt, Tasso. Doch die Inhalte dieser Zeitströmung als Gegengewicht gegen bedingungslose Aufklärung sind wichtig geblieben.
Herzliche Grüße
Ekki

 RainerMScholz (22.03.22, 22:17)
Mich gruselt. Aber aus aktuellen Gründen; und den alten, die wir vergessen zu haben uns bequemten.
Grüße,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.03.22 um 20:57:
Merci, Rainer, unser Empfinden trifft sich.
LG
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram