Orwells 1984 leider zeitlos gültig

Interpretation zum Thema Täuschung

von  EkkehartMittelberg


Man konnte hoffen, das Orwells Roman „1984“, der 1949 veröffentlicht wurde und eine Auflage von über 10 Millionen Exemplaren erreicht hat, nach dem Zusammenbruch der UdSSR an Aktualität einbüßen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Propaganda, die in dem Buch eine große Rolle spielt, wieder traurige Konjunktur.

Da der Roman wieder in aller Munde, aber den meisten Lesern wohl nicht mehr hinreichend präsent ist, gebe ich hier einen Überblick über seinen Inhalt.


Winston Smith und seine spätere Geliebte Julia leben in der totalen Diktatur von „1984“. Hauptziel der in dem utopischen Staat Ozeanien allmächtig herrschenden Partei, deren Ideologie durch den Großen Bruder verkörpert wird, ist die absolute Herrschaft über die Gedanken und Gefühle aller Untertanen dieses Staates. Die perfekte Herrschaft wird durch den straff organisierten Apparat der inneren und äußeren Partei garantiert, der jeden Einzelnen mit technischen Medien, insbesondere mit Televisoren, bis in den letzten Winkel seines Heims lückenlos überwacht. Letztes Ziel der Inneren Partei ist die Erhaltung der Macht um ihrer selbst willen, ein Ziel, das nur durch Vernichtung aller humanen Werte wie z. B. Individualität, Liebe, Vertrauen, Geschichte, zwecklose Schönheit erreicht werden kann.

Winston und später Julia versuchen, dieser Auslöschung des Individuums durch sog. Gedankenverbrechen, d.h. zunächst durch das Führen eines Tagebuchs (Winston) und später durch Schaffung einer Intimsphäre sowie durch Eintritt in die Brüderschaft, einer nur vermeintlich existierenden Untergrundorganisation, zu widerstehen.  [...] Aber sie haben sich gründlich getäuscht. Schon jahrelang waren sie durch die Geheimpolizei bespitzelt worden, und auch ihr Versteck in einem Viertel der Proles war eine bewusst gestellte Falle, die durch einen Televisor überwacht worden war. [...] Nach der Verhaftung beginnt für Winston und Julia, getrennt voneinander, eine lange Zeit schrecklicher Foltern. Diese zielen darauf ab, ihre Persönlichkeit auszumerzen bzw. so zu verändern, dass beide am Ende den Großen Bruder lieben. Die Methode der bis zum Psychoterror raffiniert gestuften Foltern besteht darin, dass beide nach ihrer Gehirnwäsche glauben, die Realität bestehe nur in der Wahrnehmung, sodass selbst die Gültigkeit von Naturgesetzen und mathematischer Axiome außer Kraft gesetzt wird: 2 + 2 = 5. Dennoch kann zunächst der Widerstand Winstons nicht entscheidend gebrochen werden. Das gelingt erst in dem Augenblick, als er, bedroht von ausgehungerten Ratten (Symbol seiner Angst und skrupelloser Brutalität der Partei), wünscht, sie mögen Julia statt seiner anfallen.


Jetzt ist Winston dafür präpariert, den Großen Bruder zu lieben, und die Partei kann es sich leisten, ihn, eine menschliche Ruine, als Beweisstück ihrer Allmacht dahinvegetieren zu lassen.

Orwell will zeigen, dass nur Geschichte als Kontrast zu einer entmenschlichten Gegenwart, die Erhaltung der Individualität, eine differenzierte Sprache als Mittel selbstständigen Denkens und individuelle Liebesfähigkeit die Hoffnung auf Widerstand gegen zunehmende diktatorische Tendenzen, gegen immer raffinierter werdende Manipulationen (Zwiedenken) und Überwachung sowie gegen zunehmende Brutalität ermöglichen und rechtfertigen können.


(Quelle: Herbert Fuchs und Ekkehart Mittelberg : George Orwell: 1984. Hirschgraben Verlag 1984. ISBN 3454 521653)







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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (24.03.22, 01:59)
Hallo Ekki,
als 1984 im Jahr 1956 in die Kinos kam, war es der Straßenfeger. 
Ein Film, der großes Erstaunen und auch Beklemmung beim Publikum verursachte. Es war aber nur ein "Science-Fiction-Film", also gut ausgedacht!
Inzwischen wissen wir, dass Orwell nicht nur eine rege Fantasie hatte!
Mir fallen noch zwei weiter frühe Filme ein, die von der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung ein düsteres Bild zeichneten. 
"Fahrenheit 451", 1953 von Ray Bradbury, wo alle Bücher vernichtet werden, und Bücherbesitzer verfolgt und gejagt werden, und
"Soylent Green", in dem Harry Harrison 1973 die Überbevölkerung der Erde auf drastische Weise beschreibt.
Heute sind wir in vielen Ländern diesen Utopien sehr nahe! 
Herzliche Grüße
TT

Kommentar geändert am 24.03.2022 um 02:03 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 09:09:
Vielen Dank für den profunden Kommentar, Tasso. Ich empfinde es als besonders verstörend, wie sich die zwei erfolgreichsten Zukunftsromane, nämlich 1984und Huxleys "Brave new world" aufeinander zu bewegen,  denn die totale Unterhaltungsgesellschaft (Huxley) stumpft immer mehr gegen die Manipulationen (Orwell) ab.
Herzliche Grüße
Ekki
Taina (39) antwortete darauf am 24.03.22 um 09:32:
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 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 24.03.22 um 10:13:
Über die visionäre Qualität von Science Fiction kann man streiten. Ebenso gibt es viele Filme und Bücher, deren Zukunft nicht eingetreten ist - weshalb sie nicht schlechter als die hier genannten Titel sein müssen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.03.22 um 12:00:
Ich hätte gar keine Lust mich darüber zu streiten, denn ich finde auch die Zukunftsromane wichtig, deren Prognose nur zum Teil eingetreten ist.
Science Fiction ist selbstverständlich wie jeder andere Roman auch nach der Qualität der Darstellung zu bemessen. Gleichwohl sind für mich die Zukunftsromane wichtiger, die permanent in der Diskussion bleiben.
Tainas Bemerkung zum trash-TV bei Big brother finde ich witzig.

Antwort geändert am 24.03.2022 um 12:04 Uhr

 TrekanBelluvitsh (24.03.22, 03:06)
Seit es Informationen gibt, gibt es auch das Bedürfnis, diese zu steuern und die Menschen zu einer bestimmten Sicht der Dinge zu bringen. Die Medien eigenen sich offensichtlich gut dafür. Ob es nun um einen allmächtigen Staatenlenker geht oder um Waschpulver.

Früher machte man das auch über andere Dinge, die heute kaum noch so stattfinden, wie z.B. die Architektur. Pyramiden oder Kolosseum sind ein Beispiel dafür, aber auch die großen Kathedralen des Mittelalters.

Gleiches gilt für die Kunst. Es gilt im Auge zu behalten, dass der "freie Künstler" eine Entwicklung des 18. Jhd. ist. Bis dahin war Kunst (fast?) immer Auftragskunst. Der Fürst, der das Bild von Christi Geburt in Auftrag gab und dafür als Zuschauer in dem Kunstwerk auftauchte etc.

Wir betrachten heute nur die Kunst an sich. Das können wir, weil uns jeglicher Kontext fehlt bzw. er abhanden gekommen ist. Ist das ein Vorteil? Vielleicht. Auf jeden Fall macht es die Sache für uns einfacher und lässt uns die Sache etwas unkritischer sehen. Wer würde heute schon bei dem Besuch der Sixtinischen Kapelle sich den Kopf verrenken und sagen: "Ganz nett, aber das Geld hätte man lieber, anstatt es einem so geldgierigen Sack wie Michelangelo Buonarotti in den Hals zu schmeißen, für die Speisung der Armen ausgeben sollen." Und warum auch. Diese Armen sind ja - so oder so -bereits seit Jahrhunderten tot.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 24.03.22 um 09:21:
Merci, eine ganz andere Sicht auf Manipulation, Trekan. Mich interessiert selbstverständlich auch der Aspekt der Kunst, aber was mich am meisten umtreibt ist meine Hilflosigkeit gegenüber modernen Manipulationen.  Es ist ja nicht hilfreich, dass die meisten Journalisten immer wieder betonen, ihre Meldungen aus der Ukraine seien ungeprüft.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 25.03.22 um 07:38:
Nun ja, im Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine war von Anbeginn an damit zu rechnen, dass wir über den Verlauf der Kämpfe - sowohl im Bezug auf das wie als auch auf die Heftigkeit (Opfer) - direkt nichts konkretes erfahren. Das liegt einfach im Wesen des Krieges. Und dabei geht es noch nicht einmal nur um Propaganda, sondern es macht auch keinen Sinn, auszuposaunen was man macht, weil der Gegner daraus ja seine Rückschlüsse ziehen kann. Darum ist es sogar wichtig, NICHT alles zu erzählen.

Darum kann ich dir nur empfehlen, von vielen Artikeln nur die Überschrift zu lesen. Denn oft enthält die bereits die ganze gesicherte Information.
Taina (39) meinte dazu am 25.03.22 um 08:03:
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 AchterZwerg (24.03.22, 07:04)
Ja, lieber Ekki,
1984 wiederholt sich derzeit auf besonders beklemmende Weise.
Nicht nur in den furchtbaren Kriegen, die unseren Planeten beschmutzen, sondern leider auch in einer Art Rückkopplung auf den "Alltag" seiner Bewohner.
Mir fällt hierzu die mörderische Diskussion um das Impfen oder Nichtimpfen ein, die auf abgespeckter Ebene das größere Ganze widerspiegelt.

Deinen / euren Aufsatz zum wohl Ewigwährenden finde ich bemerkenswert und hochaktuell.

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 10:35:
Grazie, Piccola, es wird dich nicht wundern, dass wir in allem übereinstimmen. Ich gestehe, dass mir dieser Konsens angesichts der Beklemmung über die düsteren Zukunftsprognosen gut tut.
Herzliche Grüße
Ekki
Taina (39)
(24.03.22, 09:40)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 10:45:
Vielen Dank, Taina. Man kann nicht alles wissen. So erfahre ich heute von dem in China herrschenden Punktsystem zum ersten Mal. Gruselig!
Dein Hinweis auf das Stockholm-Syndrom trifft übrigens voll auf "!984" zu. Trotz aller Foltern liebt Winston Smith ja am Ende den Großen Bruder.

 Didi.Costaire (24.03.22, 10:32)
Hallo Ekki,

der Roman von Orwell steht als einer von wenigen seit meiner Schulzeit im Bücherregal. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, ihn mal wieder zu lesen und mit der Realität zu vergleichen.

Beste Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 10:50:
Merci, Didi. Du wirst diesen Beschluss bestimmt nicht bereuen, denn die Sprache von"1984" ist so eindringlich, dass der Roman selbst dann nichts an Spannung einbüßt, wenn du den Plot der Handlung kennst.
Beste Grüße
Ekki

 Graeculus (24.03.22, 15:41)
Man könnte meinen (fürchten), daß Diktatoren in spe von Orwell gelernt hätten. Dabei hat er seinerseits ja vor allem von Stalin gelernt.

"Animal Farm" halte ich übrigens für nicht weniger bedeutend; als Liebhaber von Fabeln müßte Dir das liegen, oder?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 16:14:
Gracias Graeculus, wahrscheinlich wäre 1984 nicht ein so berühmter Klassiker geworden, wenn Orwell nicht so viel Erfahrung politischer Realität hätte hineinstecken können.
Du hast völlig recht mit dem Hinweis auf die literarische Gleichrangigkeit v0n "Animal Farm".

 GastIltis (24.03.22, 16:27)
Lieber Ekki,
wenn ich deinen Text lese und die ganzen Kommentare, und wollte als derjenige, der es ja wissen müsste, wie es ist, so gelebt zu haben, einen Stein hinter denen her werfen, die es besser wissen, komme ich mir vor wie der geblendete Polyphem: unwissend, allein gelassen, verhöhnt und dafür bestraft, dass ich etwas getan habe, was ich lieber unterlassen hätte. Was könnte das sein? Die nicht ausgelebte Unwissenheit zu einer Zeit zu bekämpfen, als sie dafür nicht geeignet war? Ich weiß es nicht. Vielleicht den Felsbrocken des Verzichts da zu lassen, wo er gewesen ist, um nicht in die Versuchung zu gelangen, doch noch den Stein (oder die Steine, die ja zu den Zyklopeninseln geführt haben sollen) geworfen zu haben? Das sind Texte, die andere beflügeln. Ich führe den Gedanken nicht fort. Schade, dass manches zu spät ist. Aber so ist es nun. Sei gegrüßt, großer Seefahrer.
Viele Grüße von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.03.22 um 17:47:
Grazie Gil,

poetische Kommentare sind so selten. Ein Glück für mich, dass du sie beherrschst.

Beste Grüße
Ekki

 harzgebirgler (25.03.22, 09:18)
der geist ist frei und schlecht zu überwachen
welch anstalten auch mächte immer machen.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.03.22 um 19:35:
Merci, mein Freund, ich fürchte, dass er angesichts der Raffinesse moderner Propaganda weniger frei ist, als wir und das wünschen.
Beste Grüße
Ekki

 Verlo (25.03.22, 09:25)
Wenn Mensch und Maschine durch Transhumanismus erst direkt verbunden sind und der Mensch keinen Einfluß mehr hat, welche Daten er (die kleinen Sender in ihm) an die Maschinen (Datenverarbeitung durch künstliche Intelligenz) gesendet hat, wird Überwachung so normal wie Atmen.

Und solche Reime werden sofort geahndet.

Kommentar geändert am 25.03.2022 um 15:12 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.03.22 um 19:39:
Es ist bestürzend, Verlo, ich möchte deine Vision gerne von mir weisen, kann es aber nicht.

 AZU20 (25.03.22, 10:44)
Ja, Ekki, die Erinnerung an das Buch tut auch heute noch weh. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.03.22 um 19:43:
Danke, Armin. man ist versucht, von einer Niederlage der Aufklärung zu sprechen.
LG
Ekki
Agnete (66)
(25.03.22, 18:25)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.03.22 um 19:47:
Vielen Dank, Agnete, ich denke, dass uns der Geist der Aufklärung verbindet.
LG
Ekki

 WinstonSmith (17.11.22, 04:55)
Was soll ich sagen?
Der Text und zum Teil auch die Kommentare sind fundiert und extrem gut!
Ich liebe das Kunstwerk von George Orwell, deshalb mein profaner Benutzername.
Es ist bereits vieles geschrieben worden, was mehr als wahr ist.

"Das Friedensministerium befasst sich mit Krieg, das Wahrheitsministerium mit Lügen, das Ministerium für Liebe mit Folterung und das Ministerium für Überfluss mit Einschränkungen."
Quelle: Roman 1984, George Orwell

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.11.22 um 11:06:
Danke für dein Kompliment und die kleine Korrektur, Winston.

LG
Ekki
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