Über den KZs und LitForen der blaue Himmel

Erzählung zum Thema Verlorenheit

von  toltec-head

Nehmen wir einen irgendeinen schwulen Mann, Jahrgang, na sagen wir, so um die 69. Der braucht keinen Holocaust. Antisemitismus oder Ausländerfeindlichkeit eh nicht.  Für den gab´s AIDS. Heureusement le SIDA veille, heißt es in einem frühen Houellebecq Gedicht: Zum Glück, das Virus hält Wacht. Heute sterben die jungen, attraktiven Männer so wie zu allen Zeiten jedoch scheinbar wieder an Unrast und Drogen.

Mit wem teilte ich, um mit Heinrich Böll zu sprechen, gemeinsam Erlebtes, Gesehenes und Gehörtes? Wer hatte in Deutschland die gleichen Erfahrungen wie ich? Wer kam aus einer jüdischen Familie? Wem war das, so wie mir, manchmal völlig egal? Wer konnte gleichzeitig nicht aufhören, darüber nachzudenken? Wer belog sich, so wie ich, wer wurde genauso wie ich von seinen Eltern belogen, wenn es um ihre eigenen Vergehen in den Zeit des großen nazistischen und stalinistischen Tötens ging? Wer machte aus genau diesem aufregenden biografischen Gewirr voller Wahrheit und Betrug Literatur?

Wieso liest heute, bis auf ein paar Kritiker und Philologen keiner die neuen Romae und Erzählungen? Weil sie von nichts handeln. Wie sollten sie denn auch von etwas handeln, wenn die Autoren, die sie schreiben, selbst nie etwas erlebt haben, bis auf ein paar Semester Germanistikstudium und drei Wochen Paris, und dass sie schon gar nichts darüber wissen, was ihre Eltern und Großeltern erlebet und getan haben, bringt sie erst recht um den Stoff, den sie bräuchten, um große Romanciers zu sein.

 https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article178087386/Maxim-Biller-Wer-nichts-glaubt-schreibt.html


Holocaust als Stoff, den man bräuchte, um ein großer Romancier zu sein? Das klingt nicht weniger schief als Gaulands Fliegenschiss Vergleich. Warum will eigentlich niemand mal aussprechen, dass das, was man in Deutschland den Auschwitz-Mythos nennt, nur der Verdeckung des blauen Himmels dient, der sich - und das seit langem schon -  über Vergasten wie Vergasern gleichermaßen wölbt. Beide vergast, sozusagen, die Vergasten den Vergasern längst gleich, das Schreckliche von dem noch Schrecklicherem mit Namen Zeit einfach aufgegessen. Das Verbot der Auschwitzlüge beinhaltet insofern selbst eine Lüge, als alles, was tatsächlich einmal war, tatsächlich ja nicht mehr ist. Und um das Schreckliche weniger schrecklich zu machen, um sich in ihm bequem einzurichten, bauen sie dann ihre Denkmäler und schreiben sie ihre Romane. Es ist zu wünschen, dass die heterosexuelle, deutsche Nachkriegsliteratur mit der Flüchtlingskrise endlich ihr AIDS bekommt.

***

Personen: Andreas und Olli.

Ort: Ein Wohnklo irgendwo in Hannover mit Aussicht auf ein anderes Wohnklo.

Andreas (sein Händy beiseite legend): Worüber lachst du, Olli?

Olli (von seinem Händy aufblickend): Über das letzte Posting dieser Krankenschwester, die auf einem LitForum Bio-Blogging betreibt und genau beschreibt, wie sie gestern jemandem den Arsch abgewischt hat.

Andreas: Ach komm, hör auf, alles was die Leute auf LitForen posten, ist doch der letzte Scheiß...

Olli: Nun, ich habe, während du wahrscheinlich gerade irgendeinen Feuilleton-Artikel aus der FAZ oder WELT aufriefst, der unnötig wie ein Kropf wahrscheinlich nicht einmal seinem Schreiber den geringsten Spaß gemacht hat, nicht ohne Vergnügen in diesem Krankenschwester-Text gelesen, obwohl ich im allgemeinen natürlich auch kein Freund von LitForen bin. Dort schreiben für gewöhnlich Leute, die über nichts Schreibenswertes schreiben können, weil sie nie etwas Schreibenswertes erlebt haben. So etwas läuft dann unweigerlich auf ein sogenanntes Gedicht oder die Verlautbarung einer Meinung hinaus. Den dort versammelten Leuten, die auch nur "Gedicht oder Meinung" können, wird dann immer so wohl zumute, weil sie meinen, mit ihren Gedichten oder Meinungen anschließen können.

Andreas: Ja, das Publikum ist erstaunlich tolerant. Es verzeiht alles - außer Genie. Aber ich muss gestehen, dass auch mir diese Idee des Bio-Blogging gefällt. Egal ob von einer Krankenschwester oder sonst wem, ich schätze diese moderne Art des Tagebuchs als Form genauso sehr wie als Gegenstand. In der Literatur ist der reine Egoismus stets entzückend. Wann immer wir ihm begegnen - es geschieht merkwürdigerweise ziemlich selten -, müssen wir ihn begrüßen und können ihn nicht leicht wieder vergessen. Egal ob nun von diesem Typ, der von seinen Nächten im Berghain bloggte oder dieser Ärsche abwischenden Krankenschwester, die Welt wird nie müde werden, diesen gequälten Angestelltenexistenzen zuzusehen, wie sie von Finsternis zu Finsternis fortschreiten. Sogar im täglichen Leben, wenn jemand nicht viel mehr macht, als Pornos zu schauen und Limo zu trinken, besitzt der Egoismus seine Reize. Wenn die Leute über andere reden, eine Meinung haben oder ein Gedicht machen, sind sie gewöhnlich langweilig. Erzählen sie dagegen von sich, dann werden sie fast immer interessant.

Olli: Schlägst du im Ernst vor, jede Krankenschwester sollte von Tag zu Tag ihr eigener Roman sein? Was würde dann aus unseren echten Romanautoren, den Verfassern echter Kunstprosa?

Andreas: Was ist aus ihnen geworden? Niemand liest sie und sie bekommen ihre Literaturpreise dafür, nicht mehr, nicht weniger.

Olli: LitForen mögen keine Kunst sein, aber die Kritik von LitForen ist selbst vielleicht eine Kunst. Kritik von LitForen, das heißt aus LitForen unabhängig von ihrem erbärmlichen Inhalt, einen Mythos machen. Sich ganz in das "Hier kommt jedermann_frau" hineinsteigern, den Bio-Blogging Charakter hinter jedem noch so blödem Gedicht oder hinter jeder noch so dämlichen Meinung herausarbeiten. Der Kritiker nimmt gegenüber dem Kunstwerk, das er kritisiert, dieselbe Stellung ein wie der Künstler zur sichtbaren Welt der Formen und Farben oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaften und Ideen. Der Kritiker bedarf zur Vollendung seiner Kunst eben gerade nicht des kostbarsten Materials. Alles dient seinen Absichten. So wie Flaubert aus den sentimentalen Liebschaften einer Menstruationslyrikerin in einer französischen, schmutzigen Kleinstadt ein klassisches Werk zu schaffen vermochte, ein Meisterstück des Stils, so kann der echte Kritiker mit intellektuellem Fingerspitzengefühl, sofern es ihm Vergnügen bereit, seine Begabung zur Kontemplation darauf zu richten oder zu verschwenden, aus Dingen von geringer oder gar keiner Bedeutung, wie den Gedichten satter Tantchen oder den Meinungen feister Onkel, ein Werk von makelloser Schönheit und Instinktsicherheit schaffen. Warum sollte er es nicht? Glanzlosigkeit ist immer eine unwiderstehlich Versuchung zu glänzen, und Dummheit ist die ewige "bestia trionfans", die die Klugheit aus der Höhle lockt.

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