Carole hat mir sicher 30 Mal die Haare geschnitten – „la brosse“, wie man in Frankreich sagt: Messerschnitt, O,9 Zentimeter. Und sie war alles andere als sanft, wenn sie das Schergerät ansetzte. Aber wir unterhielten uns immer gut, sie, die zierlich gebaute, aber resolute Friseurin in diesem burgundischen Dorf und ich, der deutsche Pensionär, der über einen Schüleraustausch einmal in dieses Dorf geraten war und dann dort heimisch wurde.
Carole war die älteste Tochter eines Bauern, der gut zehn Kilometer vom Dorf entfernt seinen Hof hatte. Dort wohnte die Friseurin. Als Carole 14 war, hat ihr die Vorgängerin im Dorf eine Lehrstelle angeboten – Carole hat sofort zugesagt und gleich die Schule abgebrochen – vier Monate vor dem Abschluss. Was sollte sie auch noch da, war sie doch mit ihrer Chefin d´accord, dass sie – sofern sie sich bewährte – einmal den Laden übernehmen würde.
Sie übernahm den Laden. Sie wohnte weiter auf dem elterlichen Hof. Sie pflegte den Vater, als dieser nicht mehr konnte. Und sie blieb unverheiratet.
Während andere ihre Familie gründeten, ihr ganzes Leben dorthin ausrichteten und mit Partner und Kindern ausgelastet waren, hatte Carole eine ganz andere soziale Einstellung. Schon ihr Beruf brachte es mit sich, dass sie über alle Geschehnisse im Ort bestens unterrichtet war, dass sie als erste Vertrauliches erfuhr und ihr auch nichts verborgen blieb.
So hat sie ganz am Anfang unserer Bekanntschaft, als ich auf dem Camping Municipal im Dauerregen versauerte, zwei Stunden nach meinem Haare-Schneiden jemand an mein durchweichtes Zelt gelotst, der mir ein Zimmer anbot. Caroles „Buschtrommel“ hatte funktioniert, und prompt wurde ich ihr Fan.
Damals gab es im Dorf noch eine intakte Pfarrgemeinde, jeden Sonntag strömte man zur Heiligen Messe, und viele Frauen halfen bei der Liturgie, beim Schmuck der Kirche, füllten die Weihwasserbecken auf, sangen im Kirchenchor. Carole sah ich da nie bei diesen Vorzeige-Frommen. Aber in ihrem Salon stapelten sich Wäsche-Säcke und abgelegte Klamotten, die sie an Bedürftige weiterleitete. Sie organisierte die Ausflüge des Alten-Klubs, und wenn sie nach Hause fuhr, zu ihrem Hof, dann hielt sie unterwegs bei der einen oder anderen vereinsamten Person, um da nach den Rechten zu schauen.
Mir schnitt sie die Haare, Messerschnitt, 0,9 Zentimeter. Und die ausgelesenen „Paris-Match“ und „L´Express“ aus ihrem Illustrierten-Sortiment, die gab sie mir mit, weil „so etwas kommt hier nicht in den Müll!“
Carole ist jetzt pensioniert, „à la retraite.“ Ihr Vater ist schon ein paar Jahre tot. Den Hof hat sie nun ganz allein übernommen, die Felder verpachtet. Ich weiß, dass sie nach wie vor „in Kleinvieh macht“: Hühner, Enten, Schafe. Doch was Carole auch jetzt niemals macht, das ist Urlaub. Dafür hat sie die Kinder ihrer Geschwister „in Pension“, wenn diese große Ferien haben. Und dann werden die tatsächlich ein bisschen ans Arbeiten gebracht, auf dem kleinen Hof. Und lernen was.
Ich war da jetzt eingeladen, zu einem zünftigen Abendessen. Alles kam aus dem Garten oder den Gehegen, die rund um das schlichte Haus herum errichtet worden waren. Alles sehr einfach, sehr französisch. Wir aßen wie Gott in Frankreich. Carole wehrte alle Komplimente ab. Von wegen „alternative Lebensart“, „Bio-Gemüse“ oder „ökologische Landbau“ - solche Sprüche mochte sie gar nicht hören.
Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich Carole so mag.