Kreishospital

Erzählung zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Quoth

„So, er hat sich beklagt, der Flügel sei völlig verstimmt … Das ist Quatsch, zwei-drei Tasten im Diskant klangen ein bisschen schräg, und auch im Bass war eine, die ich tunlichst mied. Wieviel hat er genommen?“
„Fünfundsiebzig Mark, zuzüglich Rückfahrkarte von Leipzig nach Himmelstein, etwa noch mal dasselbe.“
„Ganz schön happig für das Stimmen von neun oder zwölf Saiten. Aber gut, es musste ja mal sein! Und er sprach mit russischem Akzent, sagst du?“ Karlas Hände waren unverletzt geblieben, aber das Gesicht war verpflastert und verbunden, doch die graublauen Augen blickten Herbert forschend und freundlich an.
„Ja, er sagte, er stamme aus Odessa und habe unter anderem für die perfekte Stimmung der Instrumente gesorgt, auf denen Prokofjew auf seinen Konzertreisen spielte.“
„Wer’s glaubt, wird selig,“ bemerkte Karla sicherlich mit einem Lächeln, aber man sah es nur angedeutet in ihren Augen, die sich zu Schlitzen verengten.
„Er hat mir noch so viele Pianistennamen genannt, dass mir der Kopf davon schwirrte.“ Karla ergriff seine Hand und drückte sie fest.
„Ich bin dir so dankbar, dass du den Termin für mich wahrgenommen hast. Ohne dich hätte ich ihn absagen müssen. Und ich bin dir dankbar für deinen Besuch! Denn es kommt ja sonst reinweg niemand! Im Krankenhaus lernt man bereuen, dass man nie eine Familie gegründet hat.“ Sie tupfte sich mit einem Herrentaschentuch die wässernden Augen, besann sich aber schnell und fuhr fort: „Leg das Portemonnaie mit dem Restgeld auf die Konsole. Und die Hausschlüssel.“
„Ich hätte eine Bitte,“ sagte Herbert und schwenkte das Schlüsselbund an einem Finger, „könnten Sie mir die noch lassen? Ich habe, offen gestanden, Manfred angerufen und ihn gefragt, ob er den Termin nicht übernehmen wolle, er verstünde doch viel mehr davon. Aber er konnte nicht, weil er für den Landeszehnkampf aufgestellt ist, schlug aber vor, wir könnten doch bei Ihnen die Telemannsonaten mal zusammen üben.“
„Ohne mich?“ Karla war offenbar gekränkt, fand es dann aber doch gut, weil sie wegen Hirnerschütterung und drei gebrochener Rippen mindestens noch eine Woche in Behandlung bleiben musste. Herbert machte Freudensprünge, als er das Hospital verließ. Und er nahm sich vor, die hohen Töne Telemanns, besonders das hohe G, bis zur Bewusstlosigkeit zu üben. Und plötzlich fiel ihm der Zettel ein, den der Stimmer im Flügel gefunden hatte. Sollte er Karla noch einmal in ihrem Zimmer aufsuchen? „Ach, es ist früh genug, wenn ich es ihr bei ihrer Rückkehr erzähle. Und wahrscheinlich kennt sie ihn längst!“

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (05.03.21)
'zettel' paßt zu dem klavierbaumeister
hier, den ich grad fand, denn echt so heißt der!

https://www.pianiker.de/

gruß
harzgebirgler

ps
pianisten gibt es fast wie sand am meer
doch wirklich große sind schon seltener.

Kommentar geändert am 05.03.2021 um 12:29 Uhr
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