Das Café im Bahnhof

Erzählung zum Thema Frauen/ Männer

von  Quoth

"Das hätte ich meinem Mann nicht antun mögen.“ Herta schwieg und lächelte bemüht. Irgendwie befremdete sie, was Ellinor erzählt hatte: Dass sie jahrelang Gedichte von einem Verehrer bekommen hatte, gedankentiefe, aber auch zärtliche Gedichte, sie sei seine „Muse“ gewesen, aber getroffen habe sie sich mit ihm nie. Herta hatte einmal ein Gedicht von einem Mitschüler bekommen, sie errötete innerlich bei der Erinnerung, es hatte ihre „üppigen Titten“ gepriesen, um die der Verfasser „so viel gelitten“ habe, sie hatte ihn nicht mehr eines Blickes gewürdigt. Ellinor hatte eins der Gedichte dabei und las es vor. Es war nicht unanständig – aber unverständlich, und das war fast noch schlimmer. Was dachten die Männer sich alles aus, um Frauen zu imponieren! Sie führten Balztänze auf, plusterten ihr Gefieder – machten sich lächerlich mit unverständlichen Worten wie Entelechie … Herta wollte etwas sagen – aber dann stopfte sie sich selbst den Mund – mit einem tüchtigen Bissen Schwarzwälder-Kirsch-Torte. Die aßen sie immer, wenn sie sich trafen – und tranken dazu fair gehandelten Kaffee aus Kolumbien. Nein, Else trank Malzkaffee, ihr bekam das Koffein nicht, sie hatte ein schwaches Herz. Zu der Runde gehörten noch Ute und Hedwig, aber Hedwig hatte zu Hause den schwer an Alzheimer erkrankten Mann, sie konnte nicht immer weg, und dann kam auch Ute nicht, weil sie in einem Wagen fuhren. Dienstag Vormittag um 10 war ihre Zeit, sie nannten es ihr Frühstück und eröffneten es immer mit einem Müsli für die Gesundheit, aber dann folgte die Torte für den Genuss.

Else und Herta klatschten nach Ellinors Vortrag, Herta schränkte ihr Lob freilich etwas ein durch ihr bemühtes Lächeln, aber ihr Mann war Organist mehrerer Kirchen, und da dachte sie halt ein wenig weniger großzügig als die anderen. Ellinor hütete die Gedichte ihres Verehrers wie einen Schatz. Sie gaben ihr das Gefühl, nicht nur Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein – neuerdings auch Großmutter – sondern noch mehr, etwas Besonderes, eine Frau, die die Fantasie eines klugen und anspruchsvollen Mannes in Gang bringen, ja, in Feuer versetzen konnte. Jedes dieser Gedichte hatte sie genossen wie ein Stück Schwarzwälder-Kirsch, hatte die Worte, die sie nicht verstand, nachgeschlagen, und war dankbar gewesen, noch was hinzuzulernen. Else, die als Lehrerin immer von selbstverdientem Geld gelebt hatte, schlürfte ihren Malzkaffee, dann fragte sie schüchtern: „Was bedeutet denn eigentlich Entelechie?“ Ellinor erklärte es als eine innere Schönheit, wie sie schon in der Raupe stecke, erst im Schmetterling werde sie sichtbar. War es nicht herrlich als Muse einen Amateurdichter auf so einen Begriff gebracht zu haben? Sie hatten sich in einem Chat im Netz kennengelernt, sie hatte ihm ein Passbild geschickt, er eines von sich an sie – sie fand ihn gutaussehend trotz Stirnglatze und Doppelkinn - aber auf Abenteuer hatten sie sich nicht eingelassen, nicht einmal auf ein Telefonat. Sie waren beide verheiratet, Holger mit einer älteren reichen Erbin, deren Wohlwollen er nicht verscherzen durfte, sie mit einem Leitenden Ministerialrat im Finanzministerium, der grundsätzlich nur Sekretärinnen einstellte, die ihm „vorgetanzt“ und gefallen hatten. Ellinor wusste, dass sie eine vielfach Betrogene war, und Holgers Gedichte halfen ihr, das zu ertragen, ja, sie gaben ihr ein Gefühl von Erhabenheit über die schlüpfrige Welt des praktizierten Ehebruchs.

„Hallo Mädels!“ Hedwig rief es fröhlich aus, als sie verspätet am Tisch der drei eintraf. Ellinor, Herta und Else sprangen auf, sie drückten einander die Hand und gaben sich Bisoux. Das hatte Hedwig eingeführt, deren Mann für IBM vier Jahre in Paris gearbeitet hatte, sie war nach zwei Jahren zu ihm gezogen, und man machte ihr eine große Freude, wenn man sie Edwigue nannte. Wenig später wiederholte sich das Ritual mit Ute, die den Wagen noch hatte umparken müssen, weil ein Filmteam eingetroffen war, das den Platz für sich beanspruchte. Der kleine Bahnhof, in dem sich das Café befand, war der Bahnhof von Lunden, dem Ort, in dem die Seifenoper „Kornblumenblau“ spielte. „Was haben wir verpasst?“, wollte Ute wissen. „Wusstet ihr schon, dass unsere Ellinor eine Muse ist, die von ihrem Verehrer ‚Entelechie‘ genannt wird?“ Else war aus ihrer Malzkaffeemattheit erwacht, blickte mit leuchtenden Augen um sich und rief: „Warum hat den Schmetterling in mir noch nie ein Mann entdeckt? Ich war für alle immer nur die hässliche Raupe! Gib das Gedicht an Ute weiter, Edvigue, sie soll es auch lesen und sagen, ob sie Ellinor beneidet oder wie Herta auch ein bisschen verurteilt, denn ganz korrekt ist es für eine verheiratete Frau doch nicht, sich so als Objekt einer wenn auch rein geistigen Verehrung zur Verfügung zu stellen!“ Hedwig bedankte sich für ihr Tortenstück bei der Bedienung mit „Merci beaucoup!“, widersprach dann aber energisch: Sie habe in ihrer Zeit in Versailles kein einziges Ehepaar kennengelernt, in dem die Ehefrau nicht einen amant gehabt hätte, und sie selbst sei auch nahe daran gewesen, sich einen zuzulegen, aber dann sei ihr Mann leider wieder nach Hamburg zurückversetzt worden. Nein, es sei absolut selbstverständlich, sich der notorischen Treulosigkeit der Männer durch kleine excursions – wie sage man dafür – ja, richtig, Ausflüge zu erwehren!

Arbeiter kamen herein, um das große Schild (mit der schwarzen Aufschrift: LUNDEN auf weiß emailliertem Grund) zu holen, das für die Dauer der Dreharbeiten an der Gebäudefront befestigt werden musste. Es hatte zwischenzeitlich im Café an der Wand gelehnt. Das Hämmern, mit dem es angenagelt wurde, störte für eine Weile das Gespräch der fünf Frauen, die es genossen, sich einmal wöchentlich miteinander bei Kaffee und Kuchen gemütlich auszutauschen. „Jetzt werden wir für diese Serie wieder nach Lunden versetzt. Wie nennst du ‚Kornblumenblau‘ doch noch immer, Edvigue?“ „Une cucuterie!“ Sie lachten, das Wort war einfach zu schön! Herta verabschiedete sich als erste. „Frank muss auf drei Begräbnissen orgeln, und die Enkel sind noch zu klein, um allein zu bleiben.“ Kaum war sie weg, stand eine Flasche Freixenet Asti auf dem Tisch, die Gläser klangen aneinander.




Anmerkung von Quoth:

Wurde angeregt durch AlmaMarieSchneiders Kommentar zu meinem Text "Die fröhliche Runde".

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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (25.11.21, 11:18)
Lieber Quoth,
ich kann diese Geschichte immer wieder lesen. Wunderbar erzählt, die Mädels werden sichtbar.
Auch die Gesellschaft wird sichtbar in der sie sich bewegen.
Ein Lächeln
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 25.11.21 um 12:38:
Wäre ja toll, Alma Marie, wenn es mir gelungen sein sollte, glaubwürdige "Mädels" zu schaffen! Das kleine Café im Bahnhof gibt es wirklich, ich nahm darin meine übliche heiße Schokolade mit Kieler, und eine Frauengruppe traf sich da, und jede, die dazukam, begrüßte die anderen als "Mädels". Als Du nun in Deinem Kommentar auch von Mädels sprachst, fiel sofort der Groschen!  Danke für Kommentar, Empfehlung und Lieblingstext! Gruß Quoth

 AlmaMarieSchneider antwortete darauf am 25.11.21 um 12:45:
Lieber Quoth,
die "Mädels" sind mehr als glaubwürdig. Bussi, Bussi so sind sie halt auch ein wenig mit spitzer Zunge.
LG
Alma Marie

 Quoth schrieb daraufhin am 25.11.21 um 17:30:
Nachdem ich Dein "Immer Montags in drei Wochen" gelesen habe, ist mir klar, was fehlt: Ich habe die Kostümierung der Mädels mit keinem Wort erwähnt. Bestimmt haben sie sich für dies Treffen hübsch gemacht ... Gruß Quoth

 AlmaMarieSchneider äußerte darauf am 25.11.21 um 19:17:
Natürlich haben die sich raus geputzt. Die Freundinnen sollen doch sehen was man wieder Neues im Schrank hat  :D
Lieber Quoth, ich fürchte da würde dann langsam ein Buch daraus. Frauen sind sehr vielfältig und manchmal auch umfangreich.
Ein Lächeln
Alma Marie

 AchterZwerg ergänzte dazu am 26.11.21 um 06:40:
8-)

 AchterZwerg (26.11.21, 06:48)
Hallo Quoth,
ich mag es, wenn Klischees bedient werden, die nicht nur in Fernsehserien vorkommen.
Die Wirklichkeit ist jedoch oft "umfangreicher":
Während meines Studiums konnte ich oft beobachten, wie angehende Geisteswissenschaftler den Aufzug des  AFE-Turms in Frankfurt rauf und runter fuhren, um einen Blick auf die dort ansässigen Lehramtstudentinnen zu erhaschen.
"Die haben die hübschesten MädelZ!", hieß es immer.

Das dazu. :P

 Lluviagata meinte dazu am 26.11.21 um 06:50:
Du wieder ...

 Quoth meinte dazu am 26.11.21 um 11:16:
Hallo AchterZwerg, natürlich ist es der Blick eines Mannes auf die "Mädels", er ist nicht frei von liebevollem Spott, aber auch die Männer bekommen ihr Fett weg.

Du hast in Frankfurt also auch einmal zu den "hübschesten Mädels" gehört, die von den Geistewissenschaftlern besichtigt wurden ... Ist einer von ihnen an Dir hängen geblieben? Dank für Empfehlung mit Kommentar, Quoth
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