Unbescholten

Erzählung zum Thema Freundschaft

von  Quoth

Wie immer, wenn die Mädels sich trafen, wurde zuerst mal ein Weilchen Smalltalk gemacht, während das Müsli serviert wurde, Fairtradekaffee aus Kolumbien wurde getrunken, Else blieb bei ihrem Muckefuck, aber dann erhob Hedwig, die mit Ute ausnahmsweise pünktlich gewesen war, ihre Stimme: „Tut mir leid, aber ich muss euch heute eine Frage stellen: Bin ich eine unbescholtene Frau?“ Herta, Else, Ute und Ellinor waren baff.

„Warum fragst du uns das?“, riefen sie beinahe einstimmig.

„Es ist Aufnahmevoraussetzung für eine Gruppe, der ich gern beitreten möchte.“

„Du hast doch unsere Gruppe … Genügen wir dir nicht mehr?“, fragte Herta und blickte streng.

„Was heißt das überhaupt: ‚Unbescholtene Frau‘?“, wollte Else wissen.

„Gibt es auch unbescholtene Männer?“, fragte Ute nach. „Das ist doch ein lachhafter Ausdruck aus der Zeit, als Frauen nichts weiter waren als Möbelstücke im Haus ihrer Männer. Unbescholten hieß so viel wie unbeschädigt!“

„Und was sollte unbeschädigt sein? Der Ruf der Frau. Das ist des Pudels Kern!“ Ellinor sah sich um in dem Bewusstsein, den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.

„Und ich würde sagen, liebste Edvigue, dein Ruf ist nicht nur unbeschädigt, er ist über jeden Zweifel erhaben.“ Ute legte ihrer Freundin den Arm um die Schultern und zog sie fest an sich. Hedwig war gerührt, schüttelte aber den Kopf.

„Dass ihr das sagt, ist klar, aber ihr werdet nicht gefragt.“

„Wo fängt die Bescholtenheit an?“, fragte Ellinor giftig. „Bin ich noch unbescholten, nachdem ich mich jahrelang von Holger, die Erde werde ihm leicht, habe mit Gedichten bombardieren lassen? Denn bei der Unbescholten- und Bescholtenheit geht es mit Sicherheit nicht um das Klauen silberner Löffel, sondern einzig und allein um das Verhältnis zum männlichen Geschlecht.“ Hedwig nickte traurig.

„Ja, und wer kann über den Ruf einer Frau kompetenter urteilen als ihr Ehemann? Amandus müsste meinen guten Ruf, meine Unbescholtenheit bestätigen, aber er ist dement. An wen wende ich mich? Wer kann ihn vertreten?“

„Zuerst, liebe Edvigue, sag uns mal, was für eine fatale Gruppe, ich könnte auch sagen: Was für ein reaktionärer Haufen ist es, dem du unbedingt beitreten möchtest und der so absurde Aufnahmekriterien in seiner Satzung hat?“ Ellinor war empört, dass Hedwig sich demütigen ließ. Diese war sichtlich verlegen, Auskunft geben zu müssen.

„Bitte versteht mich. Ich liebe euch alle von Herzen und treffe mich schrecklich gern mit euch, rede gern mit euch und habe auch so gut wie keine Geheimnisse vor euch. Aber ich sehne mich nach noch etwas anderem, nach einer Hierarchie, nach geheimnisvollen Ritualen, nach Worten, die meinem Leben einen tieferen Sinn geben …“

Herta schüttelte irritiert den Kopf. „Das ist die Kirche, aber die fragt nicht nach Unbescholtenheit. Im Gegenteil: ‚Wer wirft den ersten Stein?‘, hat Jesus gefragt, als es um die Ehebrecherin ging.“ Wieder schüttelte Hedwig traurig den Kopf.

„Nein, Herta, in die Kirche bringen mich keine zehn Pferde zurück. Ich will das nicht weiter begründen, weil ich dich nicht verletzen will. In Paris hatte ich einen guten Freund, der bei den franc-maçons war, den Freimaurern, und er wollte mich unbedingt in die dortige Frauenloge lotsen. Aber dann zogen wir zurück nach Hamburg und ich vergaß es. Amandus ging in Rente, wir zogen hier herauf, und eines Tages las ich in der Zeitung, dass sich in der Landeshauptstadt eine Frauenloge gegründet hätte. Amandus ist schwer krank, nur noch die äußere Hülle eines Menschen, ich brauche etwas, woran ich mich klammern kann, ich habe Kontakt zu der Loge aufgenommen und auch schon mehrere ihrer Gästeabende besucht. Es gefällt mir sehr gut bei ihnen, ihre Grundgedanken sind Toleranz, Menschenliebe und ständige Arbeit an sich selbst. Ich fühle mich immer so aufgeräumt und erquickt, wenn ich von ihnen heimfahre in mein trauriges Leben …“ Hedwig weinte, aber nicht nur sie benötigte ein Tempo, nur Herta blickte düster und verstimmt in ihre Kaffeetasse.

„Lebt dein Pariser Freund noch, Edvigue?“ Else fragte es und gab sich Mühe, harmlos dreinzublicken. Als Hedwig nickte, fuhr sie fort: „Steht Ihr noch in Verbindung?“ Wieder nickt Hedwig und putzte sich die Nase. „Welche Stellung hat er bei den franc-maçons?“ „Ich glaube, er ist Vénérable Maître in der Loge von Versailles, das entspricht dem Meister vom Stuhl.“ „Also ein großes Tier! Kannst du ihn nicht bitten, dass er sich für dich verbürgt?“ „Nein, er war in mich verliebt, und ich habe ihn schmoren lassen, das hat er mir bestimmt nicht verziehen.“ „Aber um so überzeugter kann er sich für deine Unbescholtenheit verbürgen!“ Else strahlte triumphierend. Ein widerwilliges Lächeln breitete sich über Hedwigs Gesicht aus. „Das ist ein neuer Aspekt, Else. Wir schreiben uns eigentlich nur zu Weihnachten – aber ich rufe ihn heute noch an!“

„Unbescholten sind Frauen, die ihre Verehrer schmoren lassen!“ Mit diesem Satz fasste Ute zur Erheiterung aller die Erkenntnis des Plauschs zusammen. Herta wollte sich verabschieden, aber die Mädels bestanden darauf, dass sie noch auf ein Glas Freixenet Asti blieb, und Ellinor sagte: „Herta, ich habe deinen Mann am Samstag in der Michaelskirche spielen hören, ich glaube, es war der Kanon von Pachelbel – wunderbar, vor allem die Zartheit der ausgewählten Register war betörend …“ „Ja, das kann er,“ sagte Herta versöhnt. „Und ich bin auch sehr froh, dass du, Hedwig, nur zu den Freimaurern übertreten willst und nicht zu noch Schlimmerem!“ Die Gläser klangen zusammen – doch Ute ließ noch eine Bombe platzen:

„Ratet mal, wer mich angesprochen hat und uns einen Job anbietet! Ihr kommt nicht drauf: Max Matzke, der momentane Regisseur von ‚Kornblumenblau‘! Er hat uns, als er hier auf der Suche nach Kamerapositionen herumlief, beisammensitzen gesehen und gedacht: Genau so eine Gruppe brauche ich, um das Bahnhofsinnere zu beleben! Er fragt, ob wir am Donnerstag um 14.30 Uhr hier zusammenkommen könnten! Als Statistinnen bekommen wir Mindestlohn! Und müssen nur eine Stunde beisammen sitzen - und uns selbst spielen!“



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (04.12.21, 13:23)
Ist das nun zum Thema Religion? Ich glaube, das ist eine schöne Geschichte zum Thema Freundschaft.

 Quoth meinte dazu am 04.12.21 um 13:35:
Hab ich Deiner Empfehlung entsprechend geändert. Vielen Dank für Kommentar und Empfehlung - und die "schöne Geschichte"! Quoth

 AlmaMarieSchneider (04.12.21, 13:53)
Eine amüsante Geschichte. Mindestlohn ist schon eine hohe Auszeichnung.  Sie sollten annehmen. Ich freue mich auf weitere Geschichten mit den Mädels. Sehr gut geschrieben.

Liebe Grüße
Alma Marie

 Quoth antwortete darauf am 04.12.21 um 16:41:
Danke für Empfehlung, Kommentar und Favorit. Aber sage mirauch, wenn es so weit ist, dass ich Schluss machen sollte. Ich fürchte, in diesem witzigen Forum bin ich nicht witzig genug - leider! Gruß Quoth

 Dieter Wal (09.12.21, 20:30)
Lieber Quoth,

vielen Dank für den Hinweis auf diese nette Erzählung. Nach Umzug und Kniescheibenbruch habe und hatte ich andere Dinge als Literaturforum. Ich weiß leider nicht, ob es in D. wirklich Frauenlogen gibt, die "unbescholten" als Begriff verwenden. Nach der Lehrhart meiner Mutterloge, die der Großloge AFAMFMvD angehört, sprechen wir von "gutem Ruf", womit gemeint ist, dass "schlechte Menschen", also zB Betrüger und Straffällige, keine Aufnahme finden. Kerle abblitzen zu lassen, fällt bestimmt nicht darunter. Wer straffällig wird, dürfte ausgeschlossen werden.

Hierarchie ist ein Missverständnis wegen der Gradstukturen. Sie verstehen sich nicht als hierarchisch. Es macht keinen Unterschied, ob man Lehrling oder Großmeister ist, einmal davon abgesehen, dass ein Großmeister hoffentlich maurerische Kompetenzen erwarb, was von Neuaufgenommenen nicht erwartet wird.

Da der Text Freimaurer dezent auf die Schippe nimmt, würde ich das so belassen.

Mir begegnete 1995 beim Hamburger Kirchentag während eines Schreibworkshops eine beeinruckende Dozentin, damals war ich junger Freimaurer, sie später einer Frauenloge beitrat. Sie war damals cool, kritisch, intelligent, belesen. Ich glaube nicht, dass sie durch Freimaurerei noch cooler wurde. Doch kenne ich eine ihrer Mitschwestern, die mit enormen künstlerischen Talenten ausgestattet ist und eine wundervolle Autorin und Grafikerin wurde. Das passt. Ein freimaurerischer Rahmen hat bestimmten Stil, damit sich dort völlig verschiedenartige Menschen auf gleicher Ebene begegnen, die sich sonst wohl nie begegnet wären. Wer Interesse an Symbolik hat, Aufklärung mag und kritisches Denken schätzt, könnte sich dort wohl fühlen. Man kann auch aktiv von sich aus auf Logen zugehen und muss natürlich nicht abwarten, bis einen ein Mitglied fragt.

Gruß
Dieter

 Quoth schrieb daraufhin am 23.12.21 um 12:19:
Vielen Dank, Dieter, und gute Besserung! Ich glaube, im Zeichen von Kelle und Zirkel hätte ich mich auch wohlfühlen können - aber nun ist's zu spät!. Ja, unbescholten habe ich in den Aufnahmebedingungen einer Loge hier gefunden!
Erträgliche Festtage wünscht Quoth

 Dieter Wal äußerte darauf am 24.12.21 um 19:27:
Es gibt kein Freimaurer-Aufnahme-Höchstalter. Ab 18 aufwärts. Es ist eine enorme menschliche Bereicherung für Logen, Menschen in höherem Alter aufzunehmen. Pandemiebedingt arbeiten viele über Zoom und ähnliche Anbieter. Ich erkundige mich gern für Dich, ob und welche Logen derzeit Aufnahmen in Deiner Region durchführen. Wie man Suchende vorher kennenlernt, regelt jede Loge eigenständig und ist oft völlig verschieden.

Schöne Abende mit Kerzenlicht!
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