Die Hexe von Windsor

Erzählung zum Thema Reue

von  Quoth

„Was ich bereue? Dass ich den anonymen Brief an Frank nicht gleich in den Papierkorb geworfen habe.“ Herta blickte bekümmert in die Runde. Ellinor hatte die Idee gehabt, dass sie beim nächsten Treffen einander mal erzählen sollten, was sie bereuten. Else war an der Reihe.

„Ich bereue, mein Kind zur Adoption freigegeben zu haben. Als ich es tat, dachte ich, ich würde noch andere Kinder und das in ordentlichen Verhältnissen bekommen. Aber es hat sich nicht ergeben. Es war eine Tochter, ich weiß, wo sie lebt – aber sie will nichts von mir wissen, und das kann ich ihr nicht einmal verdenken.“

„Bei mir ist es so ähnlich – nur noch schlimmer,“ sagte Ute. „Ich habe ein Kind, das ich erwartete, abgetrieben. Ich war noch sehr jung, wäre bestimmt keine gute Mutter gewesen.“ Sie schniefte kurz in ein Tempo. „Auch wenn es bei mir als allein erziehender blutjunger Mutter sicherlich nicht das beste Zuhause gehabt hätte – aber Pedro wäre jetzt erwachsen und würde sich vielleicht mal um mich kümmern.“

„Oder auch nicht,“ ergänzte Hedwig. „Ich habe drei erwachsene Kinder, aber sie denken gar nicht daran, sich um mich zu kümmern. Nicht einmal ihr schwer kranker Vater interessiert sie. Vorgedruckte Weihnachtskarten, das ist alles, was wir von ihnen zu sehen bekommen. Ich bereue, sie nicht zu mehr Liebe zu ihren Eltern erzogen zu haben. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“

„Und das können wir hier sicherlich in der Kürze der Zeit auch nicht herausbekommen,“ sagte Ellinor. „Ihr wisst, dass das Café heute für eine Schlägerei zwischen Befürwortern und Gegnern der Flüchtlingspolitik in ‚Kornblumenblau‘ gebraucht wird, dann sind wir nicht mehr erwünscht. Ich bin mit meinen drei Töchtern sehr glücklich und habe auch bereits zwei süße Enkelchen. Ja, was bereue ich? Ich bereue, dass ich drei Jahre Mitglied einer total lächerlichen Politsekte war.“

„Verrätst du uns auch deren Namen?“ Else nippte am Ersatzkaffee.

„Nicht so gern, Metastasen dieser Gruppierung befinden sich noch immer im Land und sind sehr prozessfreudig.“

„Und warum bereust du diese Mitgliedschaft?“

„Nun, sie verfolgten Ziele von so abstruser Absurdität, dass ich mich heute noch frage, wie ich darauf habe hereinfallen können. Der Grund war sicherlich, dass meine Eltern mir den Umgang mit dieser Partei verboten, und ich wollte mir von meinen Eltern, die in der Nazizeit brave Mitläufer, wenn nicht mehr, gewesen waren, nichts mehr verbieten lassen. Der erste Kontakt hatte sich durch einen Zufall ergeben. Ich jobbte als Kellnerin in einem Biergarten, in dem sie tagten, und sie fielen mir durch ihr absolut gesittetes Betragen auf. Als Kellnerin wurde man damals von den meisten Männern als Freiwild angesehen – aber nichts dergleichen. Sie waren nicht nur schick angezogen, sondern benahmen sich auch vorbildlich und drückten mir einen Flyer in die Hand, in dem sie sich sehr klar für eine schärfere Bestrafung des Handels und Konsums von Drogen aussprachen. Das gefiel mir, weil mein Bruder bereits an der Nadel hing.“

„Aber das ist doch ein durchaus verständliches Ziel! Auch ich kann nicht begreifen, dass es offenbar völlig unmöglich ist, dieser Pest ein Ende zu bereiten.“ Herta schaute empört in die Runde.

„Nun, das war bei weitem nicht alles! Sie führten den Drogenhandel auf die Mafia und diese auf ein Komplott zwischen CIA, KGB, Mossad, Vatikan und englischer Krone zurück. Das wurde uns in vierteljährlichen Schulungen eingetrichtert und es macht mich heute noch fassungslos, dass ich das alles geglaubt habe und dafür auf die Straße gegangen bin. Wenn im Wahlkampf die spießigen anderen Parteien an ihren Ständen standen, fielen wir blitzartig über sie her, verstreuten ihr Material in alle Winde und riefen: ‚Hängt die Hexe von Windsor!‘ So nannten wir Königin Elizabeth II. im Glauben, sie sei die Wurzel allen Übels.“

„Das ist in der Tat abenteuerlich!“ Herta schüttelte staunend den Kopf. Die Mädels machten Gesichter, als ob sie nicht wüssten, ob sie lachen oder weinen sollten. Die Tür des Cafés wurde aufgestoßen und die bunt gemischten Gruppen stürzten herein, die sich in eine Schlägerei verwickeln sollten. Die Mädels sprangen auf, offenbar mussten sie verschwinden. Aber Massimo kam lächelnd herbeigefedert und gebot ihnen Einhalt: „Ich habe mit Max gesprochen. Wir rücken euern Tisch an die Wand – und ihr unterhaltet euch weiter, als ob nichts wäre! Das gibt einen hübschen Kontrast!“ Gesagt, getan! Im Nullkommanichts saßen sie neben der Tür an der Wand, wo das Schild LUNDEN lehnte, und Ellinor berichtete über weitere unfassbare Details; so wurde diesem Komplott unter Führung der Hexe von Windsor auch die Ermordung der Brüder Kennedy in die Schuhe geschoben; und die niedrigen Wahlergebnisse der Splitterpartei beruhten natürlich, wie konnte es anders sein, auf Wahlbetrug! Und während im Saal die Fetzen flogen, Stühle zerteppert wurden und Rufe wie „Wir schaffen das!“ und „Das ist Umvolkung!“ durch die Luft flogen, verdrückten die Mädels ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (13.12.21, 16:12)
Die Mädels sind weiterhin sehr unterhaltsam.

 Graeculus meinte dazu am 13.12.21 um 23:05:
Um Deine privat gestellte, aber hierhin passende Frage vermutungsweise zu beantworten: Ist es diese?

https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Arbeiter-Partei

 Graeculus antwortete darauf am 13.12.21 um 23:07:
Darüber könnte ich eine komische Geschichte erzählen, aber die wäre wohl zu indiskret.

 Quoth schrieb daraufhin am 14.12.21 um 19:50:
Ja, eben die. Vielen Dank für die Antwort. Die komische Geschichte kannst Du mir ja per Mail erzählen! Gruß Quoth
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