„Nein, den würde ich keinesfalls tragen, er wäre mir …“
„Unheimlich,“ ergänzte Else die offenbar förmlich angewiderte Herta.
„Nicht nur unheimlich – ich glaube, er wäre mir eklig!“ Herta war wieder in ihrem Element, und wieder war es Ellinor, durch die sie sich provoziert fühlte. An diesem Dienstag hatten sie sich verabredet, dass jede ihren Lieblingsschmuck zum gemeinsamen Frühstück tragen sollte. Herta hatte die Granatklunker ihrer Großmutter angelegt, Else die Halskette aus grauen Lavakugeln, die sie sich selbst gekauft hatte, und Ellinor trug ein neues Medaillon auf dem Revers ihrer Jacke, in dessen Mitte ein Diamant funkelte. Else und Herta hatten es noch nie gesehen und baten um eine Erklärung.
„Ich habe euch erzählt, dass die Gedichte, die ich regelmäßig übers Internet bekam, seltener und seltener wurden und schließlich ganz ausblieben. Nun gut, ich dachte mir nichts Schlimmes, Musen werden ja von den Herren der Schöpfung gern mal ausgewechselt, er hat eben eine andere gefunden. Aber dann bekam ich einen dicken Brief, und darin war ein wattiertes Kästchen, in dem lag dieses Medaillon, und dabei lag ein handschriftlich beschriebenes Blatt. Von wem wohl? Nun, ich konnte es zuerst auch nicht glauben: Von Louise, der Frau meines platonischen Verehrers! Ich habe ihn dabei, soll ich ihn …“
In diesem Augenblick traten Hedwig und Ute an den Tisch, Hedwig mit einer Silbermünze als Brosche, auf der der unverwechselbare Kopf von Napoleon Bonaparte prangte, Ute mit der doppelten goldenen Uhrkette ihres Vaters um den Hals. Als sie hörten, dass ein Brief verlesen werden sollte, musste Ellinor die gesamte Einleitung noch einmal wiederholen, Schwarzwälder Kirsch und frischer Fairtrade-Kaffee kamen auf den Tisch, Ute begutachtete das Briefpapier: „Das ist Bütten!“, und dann begann Ellinor vorzulesen:
„Liebe Ellinor, bitte wundere dich nicht, dass ich mich acht Wochen nach Holgers Tod persönlich an Dich wende und Dich sogar duze, wie es zwischen Euch üblich war. Holger hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er in Dir eine wundervolle Muse für seine Sonette, Stanzen und freien Verse gefunden hatte, die zu schreiben für ihn ein innerstes Bedürfnis war. Zwar hat er mir seine Werke nie zu lesen gegeben, da er wusste, dass ich damit nichts anfangen kann, aber ich merkte, wie unruhig er war, wenn es innerlich in ihm wieder arbeitete – und wie glücklich und erlöst, wenn er sein Werk veröffentlicht hatte. Ich hoffe, er war Dir gegenüber immer ebenso feinfühlig, wie er sich in unserer fast die silberne Hochzeit erreichenden Ehe mir gegenüber verhalten hat. Ich konnte ihm das Glück, das Du ihm gabst, nicht geben, und ich bin sicher, wir hätten uns längst getrennt, wenn Du unsere durchaus glücklich zu nennende Ehe nicht stabilisiert hättest. Ich habe mich bei Holgers Kremierung entschieden, aus dem Kohlenstoff seiner sterblichen Überreste einen Diamanten pressen zu lassen, und als ich das beschlossen hatte, dachte ich: Und was wird aus seiner Muse? Hat sie nicht auch einen Diamanten verdient? Diese Prozedur ist recht kostspielig, aber da mein Vater, Bauunternehmer seines Zeichens (er hat die schrägen Häuser von Gehry in Düsseldorf gebaut) mir mehr hinterlassen hat, als ich gebrauchen kann, bekommst Du nun auch einen Diamanten, den ich von meinem Juwelier habe fassen lassen in einer schlichten Form, die Dir hoffentlich zusagt. Bitte nimm dieses hoch verdiente Schmuckstück von mir an und trage es zur Erinnerung an unseren unvergesslichen Holger. Louise“
Ellinor musste ihre Rührung herunterschlucken, die anderen schwiegen so still, dass das Schmatzen Elses hörbar wurde, sie hatte die Neigung, mit offenem Mund zu essen, eine Unart, die sie in einer Partnerschaft sicherlich nicht beibehalten hätte. Als erste fasste sich Herta und sagte den eingangs zitierten Satz, nämlich dass es ihr nicht nur unheimlich, sondern sogar eklig wäre, dieses Schmuckstück zu tragen. „Gewonnen aus der Asche eines wildfremden Körpers, mit dem einen nichts als Worte verbinden … Und dann die eine Hälfte bei ihr, die andere bei dir: Habt ihr den armen Kerl nicht gleichsam mittendurch geschnitten?“
Ute lachte laut auf, befragt, warum, sagte sie: „Ich dachte nur gerade darüber nach, ob er senkrecht oder waagerecht – durchgeschnitten wurde …“ Nun mussten auch die anderen Mädels lachen, riefen einander kecke Bemerkungen zu, bis Ellinor wieder das Wort ergriff:
„Mir war auch sofort klar, dass ich das Ding nicht tragen will. Ich wollte es zuerst einfach in meiner Schmuckschublade versenken und vergessen. Aber dann schaute ich im Netz nach: Es handelt sich um einen einkarätigen Diamanten, und das Pressen eines solchen kostet an die 12000 Euro wenn nicht mehr. Den konnte ich nicht einfach behalten, wenn ich ihn nie tragen wollte. Also rief ich Louise an, sie hatte ihren Absender samt Telefonnummer auf die Rückseite des Umschlags gestempelt. Sie war kein bisschen verlegen, freute sich über meinen Anruf, konnte gar nicht verstehen, warum ich das Tragen dieses Schmuckstücks makaber fände. ‚Aber zurücksenden kommt nicht in Frage‘, sagte sie, ‚verkaufe es einem Juwelier oder versetze es im Pfandhaus, und von dem Erlös kannst du ja Holgers Gedichte bei Books on Demand drucken lassen, darüber würde er sich bestimmt freuen. Und schicke mir bitte ein Exemplar zu!‘“