Maria

Tagebuch zum Thema Nachbarschaft

von  tulpenrot

Es ist Sonntag.

Ich telefoniere, sitze währenddessen auf dem Sofa im Esszimmer und schaue aus dem Fenster.

Und ob ich es will oder nicht - ich sehe Maria.

Sie ist sehr beschäftigt auf ihrem Balkon im Haus gegenüber. Ihrem Haus, denke ich. Allerdings kann es auch anders sein. Denn ich weiß nicht, ob es ihr oder ihrem Mann gehört. Ihr Mann kommt hin und wieder zu Besuch. Er lebt in der Türkei.

Eine Nachbarin erzählte mir neulich, der Mann von Maria habe von an dem Tag an, als er in Rente ging, keinen Finger mehr gerührt. Er habe früher viel ums Haus herum gemacht, Rasen gemäht, Bäume und Rosen geschnitten – was man halt so alles macht. Jetzt geht er nur gelangweilt durch den Ort, wenn er hier zu Besuch ist. Er kommt selten.

Ganz anders Maria. Wie sie so überaus eifrig mit der Wäsche hantiert, da werden Jacken und Pullover und Strümpfe dauernd umsortiert, von einem Wäscheständer auf den anderen, da werden Pullover abgenommen, ausgeschüttelt und wieder aufgehängt. Da werden Socken zusammen angeklammert und anderes dafür abgenommen und in Wannen zusammengelegt. Bettbezüge und Kopfkissenbezüge ausgebreitet, sogar Teppichläufer über die Balkonbrüstung gehängt. Jeden Tag, Woche für Woche sind beide Wäscheständer in Aktion. Ich bin begeistert, in wie vielen Variationen Maria dieselbe Wäsche pro Tag umhängt. Unglaublich.

Manchmal dachte ich schon, Maria sei verreist. Die Rollläden waren heruntergelassen, der Balkon leer und verwaist. Ich kam mir verlassen vor. Von Maria und der übrigen Welt. Doch kurze Zeit später dasselbe gewohnte Bild: zwei Wäscheständer, einige Wannen – ich konnte beruhigt sein, die Welt war in Ordnung. Jedenfalls meine und Marias Welt.

Maria heißt eigentlich Melican. Ich las im Internet, es sei ein kurdischer Name. Klein ist sie, so hoch wie breit, kurze, dunkle gefärbte Haare – man sieht manchmal die hellen Stellen ihrer ursprünglichen Haarfarbe, wenn die künstliche Farbe ausgewachsen ist. Und manchmal trägt sie ihren Zahnersatz nicht. Dann spricht und lächelt sie mit zahnlosem Mund. Ich denke, ihr Gebiss drückt oder stört sie, oder sie vergisst, die Zähne einzusetzen. Sie sieht nicht schön aus.

Aber ihr Garten ist schön. Gepflegt. Sie mäht den Rasen mit einem leisen Rasenmäher, ich vermute, er hat Batteriebetrieb. Die Rosensträucher – einfach eine Lust sie anzuschauen. Ein übervoller Kirschbaum gehört dazu, auch eine Regentonne, die Melican neulich geputzt haben muss, denn sie trug sie durch den Garten und stellte sie verkehrt herum zum Trocknen auf.

Sie war vor einiger Zeit meine Putzhilfe. Vor ein paar Wochen erzählte mir eine Bekannte, dass sie Opfer einer Betteltour von Melican und ihrer Tochter geworden war. Die beiden hatten auf offener Straße in unserem Wohn-Viertel fremde Menschen angebettelt. Es hatte den Anschein, als ob sie Geld wollten für die Tochter. Sie raucht viel, das kostet natürlich etliches. Der Rauchgeruch weht häufig zu mir herüber, wenn sie auf dem oberen Balkon sitzt und raucht. Ob das mit dem Betteln stimmt? Ich weiß es nicht. Seitdem bin ich vorsichtig. Melican putzt schon seit über einem Jahr nicht mehr bei mir. Ich mache wieder alles selber, obwohl es mir schwer fällt.

Auch sind mir die Worte meiner Lehrer-Kollegin von vor über 10 Jahren noch im Ohr. Sie behauptete nämlich, dass ihre türkischen Nachbarn lügen wie gedruckt. Ich weiß auch da nicht, ob ich das glauben soll. Es kann so sein oder auch nicht. Es ist alles so undurchsichtig. Ich mag nicht voreingenommen sein, ich will mich vor der möglichen Not der anderen nicht verschließen, ihnen freundlich und offen begegnen. Aber wenn sie alle ein falsches Spiel spielen? Was dann?



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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (27.06.22, 09:26)
Gute Frage. Ich denke, es kommt viel zu oft vor. LG

 tulpenrot meinte dazu am 27.06.22 um 09:48:
Eigentlich weiß ich ja das meiste nur vom Hören-Sagen. Aus eigener Anschauung kenne ich nur ihre Geschäftigkeit.
Heute morgen ist ihr Balkon noch leer. Es ist aber erst 9.45 Uhr.
LG und Danke
Agnete (66)
(27.06.22, 20:12)
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 niemand antwortete darauf am 27.06.22 um 20:37:
@ Agnete

Wo soll denn ein Mensch hingucken, wenn ein anderer vor 
seiner Nase wirkt? Augen verbinden? Wer sich öffentlich zeigt
wird angeguckt. Mir scheint die Deutschen finden in allem eine Problematik. Liefe jemand vor Deinem Fenster nackt herum (nur als Beispiel) verbändest Du Dir deine Augen, nur
um nicht in den Verdacht des Stalkings zu geraten? Ist das nicht ein wenig wie "den Bock zum Gärtner machen"? 
Das erinnert mich an Frauen die halb bekleidet durch die Gegend laufen und jeden Mann gleich anblöken mit: Was glotzt Du denn so?

 niemand schrieb daraufhin am 27.06.22 um 20:42:
P.S

Oben im Text steht doch "Ob ich will, oder nicht".
Dein Kommentar hört sich wie ein Verbot für die Schauende an, ein Verbot aus dem eigenen Fenster zu gucken  :O

 tulpenrot äußerte darauf am 27.06.22 um 20:56:
@ Agnete, ich weiß ja nicht, wo du wohnst, aber ich lad dich gerne mal zu einem Plausch in mein Esszimmer ein. Ich mach dich auch mit Maria bekannt, denn wir reden mit einander und wir winken uns zu, wenn wir uns sehen. Mein Text ist tatsächlich autobiografisch. Und ich weiß nicht, wo im Text der Verdacht des Stalkings meinerseits aufkommen kann. Vor allem mein Schluss deutet doch in keiner Weise auf irgendeine komische Absicht hin.  
@ Niemand, danke, Irene, dass du mich beruhigst, dass man den Text nicht nur missverstehen kann.
Agnete (66) ergänzte dazu am 28.06.22 um 09:36:
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 tulpenrot meinte dazu am 28.06.22 um 10:00:
Und sonst transportiert der Text nichts anderes als das, dass jemand (ich) hinter der Gardine heimlich andere Leute gegen deren ausgesprochenen Willen beobachtet, ausspioniert?

 niemand meinte dazu am 28.06.22 um 16:21:
@ Agnete
Ich schreibe jetzt etwas, was mit dem Text nicht, aber mit Deinem Kommentar und Vorwurf zu tun hat. Schaut ein Mensch auf den Balkon gegenüber. Sieht wie ein Mann auf seine Frau einprügelt.
Der Mensch ruft die Polizei, die auch kommt und dank seiner Hilfe Schlimmeres verhüten kann. Dem Menschen der sie rief macht seine nachbarschafliche Umwelt jedoch den Vorwurf sich in das Leben anderer Leute einzumischen. Gut, sagt der Mensch, dann eben nicht.
Hierauf wird auf einem anderen Balkon eine Frau krankenhausreif geprügelt. Der Mensch mischt sich nicht mehr ein, weil er ja nicht gucken soll und schon garnicht darauf mit irgendwelchen
Hilfsanrufen reagieren soll. Daraufhin macht ihm seine andere Nachbarschaft enorme Vorwürfe in die Richtung: Hilfe verweigernder Ignorant! Wenn er doch nur geguckt hätte, dann hätte die Frau gerettet werden können. Fazit der deutschen Mentalität bezüglich
der absoluten Freiheit des Individuums: Nicht angucken, schon garnicht anfassen, aber helfen! Wie denn? Etwa mit: Wasch mich, aber mach mich nicht nass? Und vor allem noch etwas: Was sich vor deinem Fenster abspielt, lieber Mitmensch, musst du dulden und sei es dir noch so widrig, aber hüte dich das Verhalten eines Individuums
[selbst wenn es dich belästigen könnte, durch Lärm etc.] in irgendeiner Weise zu kritisieren, sonst drückt dir diese hysterische Freiheitsgesellschaft gleich den Stempel eines Hauswards, oder Stalkers auf die Stirn. Ja, Schizophrenie kann schon schön sein :D
Agnete (66) meinte dazu am 28.06.22 um 19:12:
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 tulpenrot meinte dazu am 28.06.22 um 21:47:
@Agnete
Zur Verdeutlichung: 1. Ich wohne in keiner Wohnanlage. 2. Meine Fenster haben keine Gardinen. Man ( z.B. Maria) kann mich also von außen sehen und auch beobachten. 3. Bist du dir sicher, dass es sich in meinem Text um Stalking handelt? Zitat aus  https://www.polizei-beratung.de/opferinformationen/stalking/
"Stalking bezeichnet wiederholtes widerrechtliches Verfolgen, Nachstellen, penetrantes Belästigen, Bedrohen und Terrorisieren einer Person gegen deren Willen bis hin zu körperlicher und psychischer Gewalt. ... Häufige Motive sind das Ausüben von Macht, Dominanz und Kontrolle sowie das übersteigerte Bedürfnis, von der/m Betroffenen wahrgenommen zu werden, Kontakt zu diesem aufzunehmen oder zu halten. Einige Stalkende leiden unter psychischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen." Bleibst du bei deiner Meinung?
Agnete (66) meinte dazu am 28.06.22 um 22:42:
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 Solvy (28.06.22, 10:02)
Ich empfinde den Text als eine genaue Beobachtung und gleichzeitig steckt eine Reflexion über das Gesehene, Gehörte und selbst Gedachte bzw. Gefühlte darin.  Es werden also (wie für ein Tagebuch typisch) zu etwas, was ich erlebt oder gesehen habe, Assoziationen aufgeschrieben und auch infrage gestellt. Das gefällt mir. Sollte es der reale Name sein, kann man überlegen, ob man ihn abändert. Aber das ist nicht so wichtig, weil ich als Leserin ja nicht weiß, wo sich die Szene abgespielt hat.
Ich notiere mir auch häufig Szenen, die ich beobachte - durchaus auch in der Nachbarschaft. Das kommt dann in ein Heft. aus dem ich später Ideen für meine Text hole ;)

Liebe Grüße
Solvy
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