Lieblich, sanft und mild

Erzählung zum Thema Weihnachten

von  Regina

Da unsere Unruhe in Erwartung des Weihnachtsfestes schon den ganzen Advent lang gestiegen war, mahnte uns meine Mutter zur Dankbarkeit ob des Termins: „Denkt an die bedauernswerten russischen Kinder, die müssen bis Heilig-Drei-König auf die Geschenke warten!“ Endlich war der 24. gekommen. Während Mama sich in Vorbereitung des am nächsten Tag stattfindenden Festessens in der Küche zu schaffen machte, war mein Vater dazu verdonnert, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Er hatte sich aber, um die Festtage in Hochstimmung zu überstehen, eine Reihe Fläschchen mit Likören, Schnäpsen, Weinen, Bier und Sekt bereitgestellt und von diesen bereits gekostet, so dass er nicht mehr in der Lage war, das unvermeidliche Lametta in geordneter Form am Baum aufzuhängen, was meine Mutter in Rage brachte, so dass Friede, Freude und Eierkuchen sich verabschiedeten. Dennoch erreichte der Tag den Anbruch der Dunkelheit, als wir Kinder schließlich im Kerzenschein die mit Spannung erwarteten Geschenke auspacken durften. Mein Vater sang dabei das Lied „Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen, wie glänzt er lieblich, sanft und mild, als spräch' er, wollt in mir erkennen getreuer Hoffnung stilles Bild...“ Der Baum mit dem von meiner Mutter wutschnaubend begradigten Lametta, den Kugeln und der silberfarbenen Spitze erfüllte seine glitzernde Pflicht.

Am 25. reisten unsere Großeltern an, um am Gansessen teilzunehmen. Mein Großvater rauchte gern, was wiederum meinen Vater in üble Laune versetzte, denn Zigarettenqualm konnte er nicht ausstehen. So nötigte er den Opa, zum Paffen nach draußen zu gehen, was diesen nicht freute. Außerdem hatte mein Großvater die Angewohnheit, uns Kinder von hinten unter die Kiefer zu greifen und am Kopf hochzuheben, dabei die Frage zu stellen „Willst du deinen Paten sehen?“ Das fühlte sich unangenehm an und ich habe keine Ahnung, was dieser Quatsch sollte. Meinem Vater jedenfalls gefiel dieser Spaß absolut nicht, so dass die Stimmung zwischen den Männern sich immer brummiger entwickelte. Oma Ließ es sich nicht nehmen, in der Küche zu helfen, obwohl meine Mutter stets für sich beanspruchte, die Hauptarbeit bereits geleistet zu haben und dass ihre Schwiegermutter keinerlei Haushaltsgeschick besaß und sich nicht nützlich einbrachte. Das immer gleiche Weihnachtsessen bestand aus Gänsebraten, Soße und Klößen neben sieben verschiedenen Salaten. Großvater tranchierte fachmännisch die Gans. Noch beim Nachtisch begann er, wie jedes Jahr, von seiner Kriegsgefangenschaft zu erzählen und alle verdrehten die Augen und stöhnten: „Jetzt redet er wieder von Russland“. Genauer gesagt, von seinen unvergesslichen vier Jahren im Kaukasus, mit denen der Kriegsfeldzug für ihn geendet hatte. Es ging um Kartoffelsäcke, die zu Kleidern umgearbeitet wurden, Zwangsarbeit, Nächtigen auf der Erde und Aufseherinnen, die Tabak in Zeitungspapier rauchten, aber auch um atemberaubendes Landschaftspanorama in der Fremde. Abgesehen von diesen Erzählungen konnte mein Großvater das Vaterunser in zehn Sprachen aufsagen, nämlich Deutsch, Niederländisch, Polnisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Englisch, Schwedisch und Hebräisch, Luxus einer brotlosen Kunst, die er bei dieser Gelegenheit zum Besten gab. Nach dem Essen gingen wir Kinder mit den beiden Männern zusammen spazieren. Da erinnere ich mich an verschneite Straßen und Waldwege. Noch folgte das Wetter den vier Jahreszeiten.

Wir drei Töchter verließen zwischen sechzehn und neunzehn Jahren unser Elternhaus und verbrachten, jede für sich, einige Jahre im Ausland. Die einsamen Weihnachtsfeste, die meine Eltern dann erlebten, versetzten sie in Trauer. Vor allem meiner Mutter schien der Haushaltsstress und die Streitereien zum Fest mehr ans Herz gewachsen zu sein als die Stille an der Seite eines feierlich betrunkenen Ehemannes. Kurz zuvor war mein Großvater gestorben. Die traditionelle Weihnachtsszene, die unsere Kindheit Jahr für Jahr begleitet hatte, kehrte nie wieder zurück. Enkel milderten zwar später die Einsamkeit der Großeltern. In der gleichen Form aber wurde das Fest nicht mehr aufgenommen.
Obwohl gerade die arbeitsfreien Tage die Schwächen der Personen und Konflikte mehr zutage treten ließen als der Alltag, bleibt das wie ein Ritual zelebrierte Fest eine stabile und möglicherweise stabilisierende Konstante in meinen Kindheitserinnerungen.




Anmerkung von Regina:

Familienweihnacht in den Sechziger Jahren

"Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen,
wie glänzt er lieblich, sanft und mild,
als spräch er, wollt in mir erkennen
getreuer Hoffnung stilles Bild.

Zwei Engel sind hereingetreten,
kein Auge hat sie kommen sehn.
Sie gehn zum Weihnachtsbaum und beten
und wenden wieder sich und gehn.

Gesegnet seid ihr alten Leute,
gesegnet seist du, junge Schar,
wir bringen Gottes Segen heute
dem braunen wie dem weißen Haar."

(Weihnachtslied, Hermann Kletke, 1841, Originaltext hier: https://www.bing.com/search?q=am+weihnachtsbaum+die+lichter+brennen+text&cvid=01ca30c5f8124be5bcba4d864c18f382&aqs=edge.1.69i57j0l8.11573j0j4&FORM=ANAB01&PC=LCTS)

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Kommentare zu diesem Text


 Saira (23.12.22, 14:13)
Zeiten vergehen, zurück bleiben die Erinnerungen.

Weihnachtliche Grüße
Sigrun

 Regina meinte dazu am 23.12.22 um 20:22:
Danke dir, liebe Sigrun, und dir ein frohes Fest.

 Naja (23.12.22, 20:13)
Realität in allen Facetten: gelungen, liebe Regina!
(Besonders angetan hat es mir der Ausdruck des "feierlich betrunkenen Ehemannes". Drei Worte, in denen ganze Bildbände liegen!)

Liebe Grüße von Naja

 Regina antwortete darauf am 23.12.22 um 20:24:
Danke dir. Ja, so hat es sich abgespielt, nicht besser und nicht schlechter. Auch dir wünsche ich ein fröhliches Fest.

Antwort geändert am 23.12.2022 um 20:56 Uhr
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