Das geheime Leben der Gedanken

Short Story

von  uwesch

Dieser Text gehört zu folgenden Textserien:  KUNSTWERK - SCHREIBWERK,  Aus dem Leben gegriffen

Am letzten Sonntag war er mit seiner Freundin Irena auf einer Ausstellung mit dem Thema Denkprozesse. Irena ist groß und schlank, jeder Zoll eine attraktive Frau, aber mit dem Herzen oft eher ein Mann, hart und unnachgiebig. Sie ist mit der ausstellenden Künstlerin befreundet.
Er war nach dem gemeinsamen Rundgang durch die Galerie enttäuscht und sagte: „Ich habe den Eindruck, dass meine Gefühle verloren gehen in einem Gewirr der Gedanken, die diese Drahtgebilde und die unendlichen schwarzen Linien auf Papier in mir auslösen.“
Sie meinte: „Was willst du mehr? Endlich fängst du mal an zu denken.“
Er empört: „Ich verstehe nicht wie ein Mensch, noch dazu eine Frau, solche nichtssagenden Bilder zeichnen kann, Linien, die wohl Formen darstellen sollen. Ich begreife die Mentalität nicht, die dahinter steht. Es muss sich um eine Art geistiger Onanie handeln. Und dann diese Preise für nichts!“
Sie: „Begreif doch! Deine Leidenschaft ist jedes Mal schnell verausgabt, wenn sie denn mal glüht. Ich nehme gern Zuflucht zu neuen Ideen. Wenn ich die Bilder und Objekte anschaue, werden die Gedanken in tausend Spiegeln in meinem Gehirn hin- und hergeworfen. Meine Nerven fangen an zu vibrieren.“
Er: „Dein coitus intellectus! Gedachte Worte sind doch nichts weiter als Einsamkeit im wahren Leben.“
Sie: „Ach duu, jedem Anfang des Denkens wohnt ein Zauber inne! Du musst dich nur darauf einlassen. Alles, aber auch alles ist denkbar.“
Irena schwärmte weiter und er stand da und hörte nur noch in zunehmend stillschweigender Verachtung zu, bis seine Gedanken woanders waren. Er wollte nicht mehr zuhören. Das war sein Leben lang so gewesen. Wenn etwas sein Interesse nicht berührte, verselbständigte sich sein Gehirn. Er war dann weg und ist es auch heute noch. Er weiß dann zwar, dass Menschen in seiner Nähe sind, aber für ihn existieren sie nicht mehr, wer immer sie auch sein mögen.
„Das ist beinahe unheimlich“, hatte Irena einmal gesagt, „du bist wirklich weg, und ich weiß, das ist keine Pose, so als würdest du Geheimnisse vor mir haben.“

Nach einiger Zeit seiner mentalen Abwesenheit meinte sie: „Ich könnte genauso gut nicht neben dir stehen. Bist du beleidigt? Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr da bin, für dich nicht mehr existiere.“
Er kam erschrocken in die Wirklichkeit zurück und beschloss, sich so bald wie möglich zu verdrücken. Doch dann bekamen Irenas Worte einen eigenartigen Duft, sie nahm seinen Arm, schaute ihm tief in die Augen und fragte mit weicher gewordener Stimme:

„Was glaubst du wie unsere Gehirne funktionieren? Sind sie vergleichbar mit diesen Drahtgebilden hier in der Ausstellung?“
Sein Intellekt fing an zu arbeiten.

„Ich glaube keiner weiß wie Denkprozesse ablaufen, was im Gehirn genau passiert. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden zwar immer differenzierter, doch jede neue Entdeckung wirft wieder andere Fragen auf.“
„Siehst du, das macht doch Spaß, die Fragen immer wieder neu zu stellen und zu beantworten. Das ist Leben und dazu gehören auch die Denkprozesse, ob offen oder geheim, wie auch immer dargestellt, biologisch, chemisch, informationstechnisch, mystisch oder eben künstlerisch. Jeder Mensch hat andere Zugänge.“

„Liebst du mich noch?“
„Ja natürlich, du Denkverweigerer.“

 



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (05.05.23, 09:50)
Uwe, du hast das geheime Leben der Gedanken sehr gut veranschaulicht. Ich bin beeindruckt.

LG
Ekki

 uwesch meinte dazu am 05.05.23 um 10:13:
Veranschaulichung war schon immer mein Ding. Deshalb habe ich u.a. das Gymnasium geschmissen und eine praktische Lehre als Elektromechaniker gemacht und mich sehr früh mit der Computerei beschäftigt - schon auf dem ersten Digital-Computer, der Zuse Z23 programmiert. Zuse war der Erfinder des Digitalcomputers.
Dank dir für die Lorbeeren und LG Uwe

 Gabyi antwortete darauf am 05.05.23 um 11:09:
kann das vielleicht auch ADHS sein ?
fragt sich Gabyi

 uwesch schrieb daraufhin am 05.05.23 um 11:58:
Nö!

 harzgebirgler (05.05.23, 13:39)
was denken heißt liegt selten auf der hand
wie heidegger in "was heißt denken?" fand
und folgt man dessen gedankengang
denken wir alle noch nicht bislang. lg vom harzer

 uwesch äußerte darauf am 05.05.23 um 17:43:
Herrlich Deine gereimten Sprüche. Es macht immer wieder Spaß, die zu lesen. Du bist ein wahrer Reimkünstler  :)  LG Uwe

 Saira (05.05.23, 19:04)
Bin gerne den Denkprozessen gefolgt :) 

Liebe Grüße
Sigrun

 uwesch ergänzte dazu am 05.05.23 um 20:58:
Danke Dir, auch für Deine Empfehlung :) LG Uwe
Agnete (66)
(06.05.23, 18:44)
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 uwesch meinte dazu am 06.05.23 um 21:25:
Das Sternzeichen war mir nicht bekannt
Dank Dir für Kommi und Empfehlung.  LG Uwe
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