Winter 1969

Lyrischer Prosatext

von  Redux

wir wohnten noch in dem alten haus,

war damals schon einhundertdrei jahre alt,
opa hatte wintertags seine kanarienvögel in käfigen
auf einem regal unterhalb der küchendecke gestellt,
abends, alles war dunkel, nur in der küche brannte licht,
gab es warme milchsuppen,
nebenan war die tenne und der dampfende stall
mit unseren kühen und schweinen
und kleinen kälbern,
es knackte ein alter herd der marke küppersbusch,
opa hörte abends im radio seine nachrichten,
wir kinder saßen auf seinem schoß,
während er“ weißt du wie viel sternlein stehen“ sang,
wir aßen kartoffelplätzchen mit apfelmus
und eintopf aus grünkohl oder dicken bohnen,
wenn es bitterkalt wurde, waren die fensterscheiben gefroren
und in den kondensatablauf der fensterrahmen

wurden zeitungsfetzen gestopft,
im stall an den türen legte man strohbunde, um den frost abzuhalten,
der stall dampfte und es roch nach warmer kuhmilch und runkelrüben,
nach kuhscheiße und heu vom vergangenen sommer,
neben der küche war eine kleine stube mit einem kohleofen,
mein opa fror immer und er konnte nicht nahe genug am ofen sitzen,
wir hatten ein dickes altes märchenbuch der gebrüder grimm,
noch immer erinnere ich mich der bilder,
auch wenn es das buch nicht mehr gibt,
nebenan in der diele war ein offener kamin
und weiter im badezimmer ein hoher schlanker badeofen,
samstags wurde gebadet und nach dem baden
saßen wir, pudelmützen auf den köpfen, im wohnzimmer
wie vöglein auf der stange, wir vier geschwister auf dem sofa,
und sahen raumschiff enterprise oder daktari oder tarzan
oder die hitparade mit dieter thomas heck

so bin ich groß geworden

das war alles
aber es war wirklich alles
für mich ende der sechziger



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Kommentare zu diesem Text


 Pearl (06.06.23, 17:33)
Hallo Redux,

das ist berührend schöne lyrischer Prosa. Es war mir eine Freude sie zu lesen. So schöne Kindheitserinnerungen, voll von echtem Erleben.

Liebe Grüße, Pearl

 Redux meinte dazu am 07.06.23 um 15:39:
Vielen lieben Dank, Pearl, ja, was meine Kindheit betrifft, so kann ich mich tatsächlich glücklich schätzen.
Freut mich.
Teolein (70)
(06.06.23, 17:36)
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 Redux antwortete darauf am 07.06.23 um 15:40:
Das freut mich sehr, Teo, ja es war eine schöne Zeit....

 Oops (06.06.23, 17:44)
❤️

 Redux schrieb daraufhin am 07.06.23 um 15:40:
Liebe Oops, vielen Dank für die Sternchen und das Herzchen. Freut mich sehr.

 minimum (06.06.23, 20:16)
Daktari und Brüder Grimm, ewig fröstelnde (aber immer freundliche) Großeltern, ein knackender Herd, das Bad am Samstagabend und Kinder, die eng gedrängt ein Sofa besiedeln - überall blitzt mir meine eigene Erinnerungswelt entgegen. Wunderbarer Text - sehr, sehr gerne gelesen.

Kommentar geändert am 06.06.2023 um 20:18 Uhr
kipper (34) äußerte darauf am 06.06.23 um 20:51:
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 Redux ergänzte dazu am 07.06.23 um 15:41:
Hey ihr zwei, danke, es sit schön, wenn sich der ein oder andere erinnert fühlzund mitgenommen....
Jo-W. (83)
(06.06.23, 21:59)
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 Redux meinte dazu am 07.06.23 um 15:42:
Lieber Jo-W., wenn deine eigenen Bilder getriggert werden, umso besser....

 minze (07.06.23, 11:35)
Schöner Einblick, ...

ich gehe nicht so mit mir deiner letzten Strophe, diesen Hang zur Conclusio, das "so war das/so bin ich/ so war die Zeit etc..." ..eines Abschlusses, Zusammenfassung...das lese ich häufiger bei dir, für mich nimmt es aber eher dem Text etwas, als das es etwas dazufügt, weil sich diese Identität, diese Zeit ja durch uns durch lebendig im Beschreiben, im Umfassen deiner langen ersten Strophe zeigt und ich es auch spannender/fruchtbarer finde als Leser eine Conclusio zu bilden. 


Allerdings neige ich ja auch dazu manchmal es einfach als Teil deines Stils anzunehmen, es hat auch etwas sehr pragmatisches und entromantisieremdes, dieser Satz "es war wirklich alles für mich Ende der Sechziger"..so was ganz nüchtern und selbstbezogen kurz fassend, was vorher sehr ausufernd und bildlich erlebbar ist.

Soweit die zwei Pole, die mich begleiten hier in der Rezeption.  :)

 Redux meinte dazu am 07.06.23 um 15:46:
Liebe Minze, du hast sehr genau gelesen und genau das festgestellt, was recht oft im Schlusssatz meiner Texte erscheint: eine Art Resümee des bisherigen Texts, als müsste ich den Leser an die Hand nehmen, damit er auch tatsächlich die Message des Texts versteht.
Als ich letztens probte ( smile) und einige Texte laut las, ist mir das aufgefallen.
Manchmal passt es, aber durch aus nicht immer, wie du bemerkt hast...sehr richtig

 Quoth (09.06.23, 19:32)
War es nicht das Märchenbuch mit den Illustrationen von Ruth Koser-Michaels? Das gibt es in Neuauflage und auch antiquarisch!
Schöner Erinnerungstext - Geborgenheit! Das ist es, was Kinder brauchen! Und was ihnen von Müttern, Vätern und Großeltern mit dem Handy am Ohr nicht mehr gegeben wird! Gruß Quoth

 Redux meinte dazu am 09.06.23 um 19:37:
Da muss ich passen.
Es war dunkelblau und der Einband war richtig dick und schwer, wie man es von Kinderbüchern für ganz junge Leser kennt.
Ja, das war Geborgenheit. Definitiv. Vieles war überhaupt nicht gut, das hat man später als Heranwachsender oder Erwachsener erst begriffen, aber es war ein Grundstein gelegt, der wichtig war fürs spätere Leben.
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