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Text

von  Elisabeth

Die 'Knutscherei' war offensichtlich auch von anderen beobachtet worden. Am Montag erhielt ich einen Brief des Rektors, der auf Wunsch der besorgten Elternvertretung wegen eines 'jugendgefährdenden Vorfalls nahe dem Schulgelände' die Eltern der Mittelstufenschüler in der Betreuung bereits am kommenden Abend zu einem außerplanmäßigen Elternabend einlud.

"Die wollen Ahmet rausschmeißen", unkte Niels, der mir den Zettel entgegenstreckte, kaum daß ich die Wohnung betrat.

Im stillen gab ich meinem Erstgeborenen recht. "Vielleicht ist es etwas ganz anderes, worüber gesprochen werden soll", versuchte ich jedoch, abzulenken.

"Ne, es geht bestimmt um die Knutscherei. Das hat doch die halbe Schule gesehen, so lange wie die da miteinander..." begann Ole, bis ihn ein Hieb seines Bruders in die Rippen zum Verstummen brachte. "Aua!"

"Ich werd' hingehen", versprach ich meinen Kindern. "Der Junge hat sich doch eigentlich nichts zuschulden kommen lassen. Wenn ich daran denke, wie die Konrektorin mit ihrem Typen sogar im Schulflur herumknutscht, wenn sie am Freitag zum Wochenende abgeholt wird", erinnerte ich mich zornig. "Dieser Junge zeigt Engagement für die Schüler, und darauf kommt es bei der Betreuung doch an, oder?"

"Klar", gab Ole mir recht, Niels nickte nur stumm, hatte schon wieder Tränen in den Augen.

"Ich werd für ihn kämpfen", versprach ich und die bewundernden Blicke meines Sohnes ließen mich tatsächlich ein bißchen wie ein strahlender Held fühlen.

Am Dienstag abend kam meine Schwiegermutter zum Hüten, ich legte nur kurz meinen Kram ab und fuhr zur Schule. Der Elternabend fand in der Aula statt, und die Eltern der etwa dreißig betroffenen Betreuungskinder schienen trotz des kurzfristigen Termins tatsächlich vollständig erschienen zu sein. Die Bühne war zu einem Podium zurechtgemacht worden, und dort saßen der Rektor, die Konrektorin, drei Lehrer und drei der Betreuungskräfte, von denen ich Frau Töpfer zweifelsfrei erkannte. Aber keiner der da oben Sitzenden sah wie ein achtzehnjähriger Praktikant mit türkischen Eltern aus.

Nach allgemeinen, einführenden Worten kam der Rektor endlich zum Punkt: "Sie haben vielleicht schon durch Ihre Kinder davon gehört, daß sich am vergangenen Freitag in Sichtweite der Schule eine unserer Betreuungskräfte, ähm... ungebührlich verhalten hat. Die zahlreichen Anrufe der zu Recht besorgten Eltern haben mich veranlaßt, Sie zu diesem außerplanmäßigen Elternabend einzuladen, um Sie umfassend zu informieren. Und um Sie gleich zu beruhigen, in den Vorfall war kein Mitglied unseres Kollegiums verstrickt. Bei der fraglichen Betreuungskraft handelte es sich um einen Praktikanten, nicht um einen der beamteten Lehrer. Außerdem war es entgegen dem anscheinend umlaufenden Gerücht auch kein Schüler unserer Schule der dort..."

Einer der Väter im Publikum sprang mit hochrotem Kopf auf. "Es geht doch darum, daß dieser schwule Türkenbengel mit einem seiner Stecher direkt vor dem Eingang zum Schulhof herumgemacht hat, nicht wahr?" rief er aufgebracht. "Ich finde, so jemand hat an einer Schule nichts zu suchen. Wenn man sowas durchgehen läßt, treiben die es demnächst noch auf den Schulklos, oder was?"

"Ich war gleich dagegen, daß man ausgerechnet einem Ausländer die Betreuung unserer Söhne überträgt", ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. "Da sieht man, was wir davon haben."

"An der fachlichen Qualifikation von Herrn Cebir besteht kein Zweifel, und es gibt auch keinen Grund, sie in Frage zu stellen", meldete sich die Konrektorin zu Wort. "In Frage steht ausschließlich sein sittlich nicht ganz einwandfreies Verhalten."

"Der ist doch viel zu jung, um sittlich gefestigt zu sein. Ein so junger Mann kann doch den Kindern nicht in einer so verantwortungsvollen Position wie der eines Betreuers begegnen. Er wird doch als Vorbild gesehen", tadelte die Mutter eines Klassenkameraden von Ole die Entscheidung des Lehrerkollegiums.

"Also, es geht jetzt doch darum, wie wir den Kerl trotz laufendem Vertrag rauszuschmeißen können, oder?" fragte der rotköpfige Vater wieder.

Nun stand ich auf. "Die Kinder... schätzen Herrn Cebir gerade, weil er so jung ist. Außerdem nimmt er seinen Job wirklich ernst, und zumindest die Leistungen meiner Söhne haben sich während seiner Betreuung drastisch verbessert. Es ist ja nicht so, daß an dieser Schule das erste Mal Erwachsene in verantwortungsvollen Positionen in Sichtweite der Kinder Zärtlichkeiten mit schulfremden Erwachsenen ausgetauscht hätten", erinnerte ich. "Also dürfte dieses 'sittlich nicht ganz einwandfreie Verhalten' doch eigentlich kein Thema sein."

"Das ist doch aber ein Unterschied, ob man jemandem die Zunge in den Hals steckt, oder ein Begrüßungsküsschen auf die Wange gibt", gab die Konrektorin bissig zurück.

"Ist der Unterschied nicht viel eher, daß Herr Cebir einen Mann geküßt hat?" fragte ich provozierend.

"Nein, es geht einfach um die überschrittene Grenze des Anstandes", widersprach die Konrektorin.

"Einen Schwulen hätten die gar nicht als Praktikanten nehmen dürfen. Der ist doch eine Gefahr für unsere Söhne", hörte ich eine Frau verhalten hinter mir flüstern.

Erbost drehte ich mich zu der Flüsternden um, vielleicht war ich nur so aufgebracht, weil ich selbst wenige Tage zuvor ja noch ähnliche Gedanken gehabt hatte. "Wieso denken Sie, er würde unsere Söhne anfallen? Fallen die heterosexuellen Lehrer unsere Töchter an? Wieso sollte Herr Cebir seine Arbeit weniger von seinem Privatleben trennen können? Schlägt Homosexualität auf den Verstand?"

"Ihr Sohn ist doch auch schwul", antwortete daraufhin die mir völlig unbekannte, brünette Mutter. "Kein Wunder, daß Sie sich so für den Kerl einsetzen." Und dann stand der neben ihr sitzende Mann auf. "Ich bin dafür, daß unter den Eltern über den Verbleib des Praktikanten abgestimmt wird", verkündete er den Versammelten. "Und ich bin dagegen, daß er meinen Sohn weiterhin betreut!"

"Wer weiß, vielleicht ist er selbst ja auch schwul", flüsterte die brünette Mutter einer anderen neben ihr sitzenden Frau zu. Ihrem Blick nach sprach sie von mir. "Muß ja einen Grund haben, warum die Kinder keine Mutter mehr haben."

Ich mußte mich sehr zusammenreißen, dazu nichts zu sagen, atmete tief durch und warf dann in das allgemeine Gemurmel ein: "Ich dachte, es geht hier darum, die Eltern über den Vorfall zu informieren und vielleicht klare Richtlinien für das Verhalten von Aushilfskräften und Praktikanten aufzustellen, damit solche Vorfälle in Zukunft klar geregelt sind."

"Ich bin für eine Abstimmung über den Verbleib des Praktikanten, danach können wir uns über alles andere Gedanken machen", rief eine andere Stimme aus dem Publikum.

Die Auswahl des Kollegiums auf dem Podium sah etwas überfordert aus, anscheinend entglitt ihnen die ganze Angelegenheit gerade, denn immer mehr Eltern riefen nun nach einer sofortigen Abstimmung.

Der Rektor beriet sich kurz mit den anderen, dann verkündete er: "Also stimmen wir über den Verbleib von Herrn Cebir als Betreuungskraft ab", sagte er. "Beachten Sie bitte, daß jede Familie nur eine Stimme hat. Wünschen Sie eine geheime Abstimmung?"

Die wenigen 'Jas' gingen in den 'Nein'-Aufschreien unter. "Also per Handzeichen", gab der Rektor zu Protokoll. Damit war das Ergebnis dieser Abstimmung wohl klar. Es brauchte schon eine Menge Rückgrat, in dieser Situation noch öffentlich zu bekennen, daß man für den Verbleib des Praktikanten war.

Für den Verbleib von Ahmet als Betreuer waren mit mir gerade drei Stimmberechtigte, dagegen fünfzehn und vier enthielten sich der Stimme. Damit war die Sache entschieden.

Noch einmal diskutierten die Lehrer und teilten dann mit, daß Frau Töpfer wieder ihren Posten einnehmen würde, bis eine andere Ersatzkraft für die Betreuung gefunden worden sei. Dann erklärte der Rektor, daß wir in den nächsten Tagen über die Art der weiteren Beschäftigung des Praktikanten unterrichtet werden würden, denn sein Vertrag laufe erst am Ende des Schuljahres aus.

Eine beginnende Diskussion, daß einer solch triebgesteuerten Person der Verbleib auf dem Schulgelände nicht gestattet werden dürfe, wurde mühsam abgewürgt. "Wir nehmen Ihre Bedenken ernst", versicherte der Rektor mit treuherzigem Blick. "Aber wir sind durch den Vertrag gebunden. Herr Cebir hat sich in allem innerhalb der Grenzen des Vertrages bewegt."

"Er muß also erst einen unserer Söhne vergewaltigt haben, bevor Sie etwas unternehmen?" kam die provozierende Frage einer Mutter.

"Der Vertrag regelt das sittliche Verhalten auf dem Schulgelände und in dieser Hinsicht hat Herr Cebir sich nichts zuschulden kommen lassen", betonte der Rektor noch einmal.

"Der betreffende Vorfall fand eben nicht auf dem Schulgelände statt", ergänzte die Konrektorin, und es klang bedauernd.

"Aber es war in Sichtweite der Schule, direkt vor dem Tor", schimpfte die Frau.

"Nun lassen Sie es doch gut sein", entfuhr es mir. "Reicht es denn nicht, daß wir alle mit dieser Abstimmung die berufliche Karriere eines jungen Mannes behindert oder sogar zerstört haben? Er braucht doch dieses Praktikum für sein Lehrerstudium."

"Na, das wäre ja noch schöner! Soll er etwa als beamteter Lehrer unseren Söhnen in den Schritt greifen?" rief der rotköpfige Vater wieder.

Ich hätte ihm für seine Verbohrtheit am liebsten eins auf die Nase gegeben. "Wieso unterstellen Sie Herrn Cebir so etwas? Kennen Sie ihn überhaupt?"

"Aber Sie kennen ihn wohl, nicht wahr? Wo doch Ihr Sohn anscheinend ähnliche Neigungen hat. Vielleicht hat er den famosen Herrn Cebir ja mal nach der Betreuung mit nach Hause gebracht."

"Ahmet engagiert sich für die Kinder, er verwaltet sie nicht nur. Er spielt mit ihnen Fußball...", versuchte ich, die Dinge geradezurücken.

"Na, Sie scheinen ja sein ganz besonderer Freund zu sein", unterbrach mich die Mutter, die die Vergewaltigung ihrer Söhne fürchtete, gehässig, "wenn Sie mit ihm sogar per du sind. Vielleicht sollten Sie sich lieber dafür engagieren, daß Ihre Kinder gesünderen Umgang haben."

"Die Veranstaltung ist geschlossen", ertöne plötzlich die Stimme des Rektors durch die Verstärkeranlage der Aula. "Wir bitten Sie, die Aula zu verlassen. In den nächsten Tagen teilen wir Ihnen unsere Entscheidung schriftlich mit."

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