4. Ein neuer Tag

Text

von  Elisabeth

Frisch geduscht und halbwegs rasiert ging ich einige Minuten nach dem Weckruf hinunter in das Restaurant. Frühstück gab es so spät nicht mehr, aber an der Bar hatte ich schon die Möglichkeit, ein gepflegtes Bier zu erhalten. Neugierig zog ich endlich Lianes Visitenkarte aus der Brusttasche des Jacketts. "Liane Paulsen, Bildhauerin", und die schöne Liane wohnte praktisch bei mir um die Ecke, in einer Nachbarstadt. Wieso hatte sie eigentlich Urlaubszeiten einzuhalten, wenn sie Bildhauerin war? Sie war also wohl nicht freiberuflich tätig. Ich nahm mir vor, sie am Abend danach zu fragen, wo sie denn als Bildhauerin arbeitete.

Auf die Begegnung mit Reneé nahm ich noch ein zweites Bier und ging dann langsam zum Schiff hinüber. Es war zwar noch reichlich Zeit, aber wie ich meine Exgattin und meinen Sohn kannte, waren sie bestimmt schon da und warteten bereits ungeduldig. Wenn ich mich doch nur einfach hätte absetzen und an Lianes Fersen heften können!

Dieser Tag war erfreulicherweise sehr viel sonniger, als der vorherige, wenn es auch nicht so lau war, daß man es für den kurzen Weg ohne Mantel über dem Anzug ausgehalten hätte. Neben einer Planke mit zwei Handläufen, die auf das Schiff führte, standen schon Felix und Reneé, das Ehepaar Gerdes und zwei dunkelhaarige Mädchen. Eine der jungen Damen war Katja, in einem frühlingshaft anmutenden, hellgelben Mantel und mit einem gelb-rosa Blumenbouquet, das andere Mädchen erinnerte mit ihren großen, braunen Augen ein wenig an Liane. Felix lief mir entgegen, umarmte mich überraschenderweise und gab mir sogar einen Kuß auf die Wange. "Ganz herzlichen Dank, daß du gekommen bist, Papa", flüsterte er mir zu. "Du ahnst gar nicht, was mir das bedeutet." Dann nahm er mich an der Hand, zog mich zu den anderen.

Frau Gerdes, Ingeborg, wie ich mich von der Verlobung zu erinnern glaubte, unterhielt sich angeregt mit Reneé, und da meine Exfrau nun auffällig schnell den Blick von mir abwandte, hatte sie wohl gerade über mich gesprochen. "Meine Schwester ist auch einfach unmöglich", gab Ingeborg Gerdes auf die letzten Worte Reneés zurück. "Ich bin offengestanden ganz froh, daß auf dem Schiff zu wenig Platz ist, alle zur Trauung einzuladen."

"Hallo,... Justus", erinnerte Katja sich daran, daß ich ihr bei der Verlobung mit meinem Sohn das 'Du' angeboten hatte. Auch sie umarmte mich kurz, allen anderen schüttelte ich artig die Hand. Das junge Mädchen wurde mir als Katjas Schwester Marlies vorgestellt und dem Ehepaar Gerdes dankte ich für die großzügige Unterbringung und die gute Wahl des Hotels.

"Jetzt warten wir nur noch auf unsere Trauzeugen und den Standesbeamten", bemerkte Katja dann, doch Augenblicke später hielt schon ein Auto auf dem Parkplatz nahe der Planke, dem zwei junge Leute im Alter des Brautpaares entstiegen und Katja und Felix herzlich begrüßten.

Wenige Minuten später wurden wir von einer Art Steward auf das Schiff und in einen Empfangsraum gebeten, in dem wir unsere Mäntel ablegen und uns von dem bereitgestellten Sekt und Orangensaft bedienen durften. Dann wurde eine Schiffsglocke geschlagen und Hans Gerdes erklärte: "Acht Glasen, zwölf Uhr, die Trauung beginnt."

Die Trauung fand in der Kapitänskajüte statt, die von einem großen, ovalen Tisch fast völlig ausgefüllt wurde. Der Standesbeamte saß an der einen langen Seite, die Brautleute und ihre Trauzeugen an der anderen, für uns restlichen fünf standen zwei Bänke an den Seiten des Raumes zur Verfügung, die jeweils für zwei Personen gedacht waren. Und so quetschte ich mich neben dem recht korpulenten Hans auf die eine, während sich die Damen und Marlies auf der anderen eng aneinanderdrückten. Die Ansprache des Standesbeamten unterschied sich inhaltlich kaum von dem, was man Reneé und mir vor Jahren vorgetragen hatte. Aber ich hoffte für die beiden Kinder, daß ihre Ehe länger dauern und glücklicher sein würde, als unsere. Marlies machte ein paar Fotos von der Zeremonie und dem ersten ehelichen Kuß, und nach einer guten halben Stunde war dieser Teil des Tages überstanden.

Als wir das Schiff wieder verlassen hatten, hakte Ingeborg sich bei mir unter, während Hans Reneé geleitete. Außer Felix' Trauzeugen, der das Auto wohl zum 'Hafenblick' fuhr, gingen wir alle zu Fuß zum Hotel, in dem das Essen und die Feier anläßlich der Vermählung stattfinden sollte. "Wir haben noch ein bißchen Zeit", flötete die Brautmutter, "der Empfang beginnt erst um halb zwei. Wenn du dich noch einmal frisch machen möchtest..."

Wahrscheinlich meinte sie es nicht so wie es klang, also dankte ich für den Hinweis, aber anstatt mich in mein Zimmer zu verfügen, ging ich geradewegs in die Bar und bestellte noch ein Bier, diesmal mit einem Korn. Die Zeit reichte für ein zweites Bier und einen zweiten Korn, dann fühlte ich mich gewappnet, den Wegweisern in den Gesellschaftsraum zu folgen, in dem die Hochzeit Gerdes/Wintermann stattfinden sollte.

Der Saal begann sich bereits zu füllen, allenthalben standen Grüppchen sich angeregt unterhaltender, fröhlicher Menschen. Felix wurde von einer ganzen Schar junger Männer und Frauen umringt und beglückwünscht, und Katja stand mit Schwester und Trauzeugin in einer Gruppe jüngerer und älterer Frauen. Für die Überreichung des Hochzeitsgeschenkes, das ich seit mehr als einem Tag in meiner Jackettasche herumtrug, würde ich einen Moment abpassen, der auch ein paar persönliche Worte erlaubte, denn ich wollte den schlichten Umschlag mit den Gutscheinen für das Krimiwochenende in London nicht zu den vor allem aufwendig verpackten Geldgeschenken auf dem Gabentisch legen.

Ich nickte denen, die ich eben noch auf dem Schiff gesehen hatte, freundlich zu, dann schlenderte ich von Tisch zu Tisch, um mich mit der Sitzordnung vertraut zu machen. Natürlich sollte ich mit den anderen Brauteltern an dem großen runden Tisch sitzen, der auch für das Brautpaar vorgesehen war. Wahrscheinlich wurde von mir auch irgendeine Ansprache erwartet und Felix war es wichtig, daß ich diesen Erwartungen entsprach, also würde ich mein Möglichstes tun. Ich sah mir einige der anderen Platzkarten an: zu meiner Rechten würde Ingeborg sitzen, links von mir hatte die Braut ihren Platz. Außer dem Brautpaar würden fünf weitere Paare, also zwölf Personen an diesem Tisch sitzen, natürlich Reneé neben Felix und an ihrer Seite Katjas Vater. Vermutlich wurde auch Katjas Schwester mit Herrn und die Trauzeugen mit ihrer Begleitung hier sitzen.

Dann sah ich, daß Hotelbedienstete Tabletts mit Aperitifs für die Hochzeitsgäste herumtrugen. Ich kehrte also wieder zu den anderen Gästen in die am späteren Tag wohl als Tanzfläche gedachte freie Mitte des Saales zurück, um mir auch den einen oder anderen Aperitif zu genehmigen, und glaubte plötzlich, meinen Augen oder meinem Glück nicht trauen zu dürfen. Gerade ließ Liane sich eines der Gläser mit dunkelrotem Likör reichen. Aber natürlich! Wer außer den Hochzeitsgästen würde zur Zeit wohl im Hotel wohnen? Und wie außer durch Verwandtschaft war die Ähnlichkeit zwischen Katjas Schwester und Liane zu erklären? Vielleicht war meine Jungfer eine Cousine von Katja und Marlies.

Ich eilte mit großen Schritten zu ihr, nahm mir auch ein Glas vom Tablett der Servierkraft und hielt es Liane zum Anstoßen hin: "Auf dein Wohl, schöne Jungfer", sagte ich leise.

Liane zuckte regelrecht zusammen, sah zu mir hoch. "Michael! Hast du mich erschreckt", dann lächelte sie glücklich. "Wenigstens ein ehrlicher Mensch unter all den..."

"Nein", warf ich ein, "nicht ganz ehrlich, fürchte ich", gestand ich, bevor sie weiterreden konnte. "Hast du denn noch nicht den Adresszettel gelesen, den ich dir in das Buch gelegt hatte?"

Beruhigend lächelte sie und nickte. "Doch, ich habe ihn gelesen. Ich weiß, daß du der Schwiegervater meiner Nichte bist." Sie besann sich einen Moment. "Ich meinte nicht das Verschweigen unbedeutender Details, sondern daß mir einfach die Falschheit zuwider ist, mit der viele Leute ihre wahren Interessen hinter irgendwelchen Masken so gut verbergen, daß sie sie selbst vergessen und anderen dann ein schlechtes Gewissen machen wollen, wenn sie es nicht ebenso halten." Dann glättete sie ihre mit den kritischen Worten in Falten geworfene Stirn wieder und lächelte mich an. "Aber du lebst deine Interessen, das gefällt mir sehr."

Das Kompliment hätte ich ganzen Herzens zurückgeben können, aber ich schloß aus dem Gesagten nur: "Das heißt also, du bist die Schwester von Ingeborg Gerdes."

"Ja, ich bin die unmögliche kleine Schwester von Ingeborg, die sich die Hochzeit am liebsten geschenkt hätte. Aber Katja hatte mich so gebeten zu kommen, daß ich es nicht über das Herz brachte, sie hängen zu lassen. Nur gestern die Probe für das Hochzeitshappening, das war doch zu viel. Es ist definitiv nichts für mich, als Azurjungfer durch die Gegend zu hopsen."

"Du sahst aber sehr neckisch aus", gab ich zu bedenken.

Liane strahlte mich wieder an. "Ach, ich glaube, ich könnte mich in dich verlieben, Michael." Und sie sah aus, als meinte sie es wirklich ernst.

"Mein Herz hast du schon gefangen", gestand ich ihr, nahm ihre freie Hand und hauchte einen Kuß auf den Handrücken.

Liane errötete, senkte den Blick zu Boden, aber sah mich dann doch wieder an und gab mir den Kuß zurück, mitten auf den Mund. Der Aperitif war uninteressant geworden.

* * *
ENDE



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