1. Verbindung zur Vergangenheit

Text

von  Elisabeth

Patrais verabschiedete sich für die Nacht von Urzan, der ihr freundschaftlich auf die Schulter klopfte und "bis morgen", brummte, bevor er die Tür hinter ihr verschloß. Im Licht des vollen Mondes schlenderte sie die schmale Gasse entlang und drehte lächelnd den Kirschbaumzweig zwischen den Fingern, den ihr die hübsche Manala zusammen mit einem leidenschaftlichen Kuß geschenkt hatte. Manalas Lust war überaus verführerisch gewesen, aber so spät wurde Hermil sicher unruhig, wenn Patrais länger ausblieb. Und morgen würde Manalas Lust noch heißer brennen.

Von Urzans Bordell, in dem sie als Mann unter dem Namen Harhan als Türsteher und Verteidiger der holden Weiblichkeit bei Übergriffen der Kunden diente, und gelegentlich auch als hingebungsvoller Tröster dieser holden Weiblichkeit, waren es nur ein paar Schritte bis zu dem Torgang, hinter dem sich ein kleiner Ama-Schrein befand und das Haus der Hebamme Ensha, in dem Patrais als ihr angeblicher Neffe wohnte.

Sie drückte einen für die Göttin gedachten Kuß auf die dicht stehenden Knospen, dann legte sie den Zweig vor die Füße der vom Mondlicht übergossenen kleinen Statuette. Stumm dankte sie Ama, daß sie ihr wieder die Freude am Leben und an der Liebe geschenkt hatte, die sie damals, als sie Enshas Haus das erste Mal betrat, für immer verloren glaube.

Dann sah sie die vermummte Gestalt neben der Tür der Hebamme auf dem Boden sitzen, das war keine Letrani, die hier Hilfe oder Zuflucht suchte, und sicher nur scheinbar schlafend. Patrais legte die Hand auf den Griff des Dolches, den sie in Urzans Diensten als einzige Waffe mit sich führte und näherte sich vorsichtig. Kaum, daß Patrais vor ihr stand, hob die Person wie erwartet den Kopf. Sie hatte auf Patrais gewartet.

Die junge Frau schien plötzlich überaus vertraut. Patrais entspannte sich, es drohte keinerlei Gefahr. Obwohl sie sich nicht recht erinnern konnte, war das eine gute Freundin aus Kindertagen. Also streckte sie die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.

Tatsächlich ergriff die andere mit ihrer Rechten Patrais Hand, aber stand so mühelos auf, als wäre es nur Freundlichkeit ihrerseits gewesen, die Hand zu nehmen, nicht der Bedarf an Hilfe. Sie war barfuß, so groß wie ihr Gegenüber und trug ein Bündel im linken Arm, verborgen unter dem Mantel, den sie um sich gewickelt hatte. Und als sie den Saum des Mantels von ihrem Scheitel zog, enthüllte sie so weiße Haare, wie sie auch Patrais unter ihrer Verkleidung hatte, geerbt von ihrer unirdischen Mutter, und ebenso hellgraue Augen.

"Bist du eine Schwester von mir?" fragte Patrais erstaunt. Ein so starkes Gefühl der Verbundenheit hatte sie nach dem Verlassen ihres Vaters nur mit ihrem eigenen Sohn erlebt.

Ja, sie waren verwandt. Und die andere hatte eine Bitte an sie.

Natürlich würde Patrais ihr jede Bitte erfüllen, etwas anderes stand außer Frage. Es überkam sie, die Frau voller Zuneigung zu umarmen und die empfangenen Küsse auf beide Wangen zu erwidern, dann führte Patrais sie zu der Bank unter dem schmalen, umlaufenden Dach des Innenhofes, gegenüber dem Schrein der Göttin. "Was kann ich für dich tun, Cousine?"

Sie brachte ihr Kind, das nicht bei ihr bleiben konnte. Für einen Augenblick sah Patrais eine große, rotgoldene Blüte in den von Liebe erfüllten Gedanken der Unirdischen, die ein fernes Echo in ihr widerhallen ließ, als habe sie die Blüte selbst schon gesehen. Ob das Tyrimas Flamme war, von der es in den Schriften hieß, sie wärme die Gärten der Freude? Vielleicht erinnerte sie sich auch aus ihrem ersten Lebensjahr in den Gärten daran. Doch länger konnte ein sterbliches Kind dort nicht bleiben, daher hatte auch ihre Mutter ihr Kind zu seinem sterblichen Vater gebracht.

Doch bei seinem Vater konnte das Kind nicht sein. Die Unirdische schlug das Ende des Mantels von ihrem verhüllten Arm zurück, und Patrais sah, daß das Bündel tatsächlich ein nackter Säugling von vielleicht drei oder vier Monaten war, ein schlafendes Mädchen mit so dunkler Haut, wie Patrais selbst sie hatte und sehr feinem, weißen Haar auf dem Kopf, das im Licht des Mondes glänzte. Ohne Zweifel hatte dieses Kind ebenfalls das Blut der Unirdischen in sich, und es war liebenswerter als jedes andere Kind, das Patrais je gesehen hatte - nein, ermahnte sie sich dann, nicht liebenswerter als ihr eigener Sohn.

Dieses Kind war wie Patrais. Und sie würde für sein Wohlergehen sorgen, bis sie wieder mit der Unirdischen zusammentraf. Sofort streckte Patrais der Unirdischen die Hände entgegen, doch hielt dann inne. Was, wenn sie Letran mit Hermil verlassen wollte, bevor die Unirdische zu ihrem Kind zurückkehrte? Das Kind würde seine Mutter immer finden. Also nahm Patrais das Kind in Empfang, das sich gleich voller Vertrauen in ihre Arme schmiegte. Liebevoll streichelte sie den Schopf des kleinen Wesens, das sie nun aus so hellgrauen Augen anblickte, wie seine Mutter und Patrais selbst sie hatte. "Wie heißt das Kind?" fragte sie, schon ganz verliebt in das Mädchen, und blickte wieder auf, aber die Unirdische war spurlos verschwunden. Vielleicht suchte sie für ihre Tochter in der Zwischenzeit ja einen Ort zum Aufwachsen, an dem weiße Haare und graue Augen weniger fremdartig waren, als es Patrais Aussehen unter den schwarzhaarigen und dunkeläugigen Nachkommen der Tarib in Hannai gewesen war.

Wie es ihr Vater schon früh vorhersagte, hatte sich mit dem Heranwachsen auch das zu Patrais Aussehen passende unirdische Erbe entwickelt, jedoch nicht so schnell, wie es nötig gewesen wäre. Als Nefut Tashrany damals von Unstimmigkeiten mit dem König sprach und seine Tochter drängte, unerkannt aus Hannai zu fliehen, hatte sie noch ihre Haare färben müssen, doch inzwischen konnte sie nicht nur die Gefühle der Menschen lesen, sondern beherrschte auch die Kunst, die Wahrnehmung anderer so zu manipulieren, daß sie sahen, was sie sehen sollten: braune Augen anstelle der hellgrauen, schwarze Haare anstelle der weißen und einen Kinnbart wie der Stallmeister ihres Vaters ihn getragen hatte, wenn sie als Mann erscheinen wollte. Hätte sie dieses Talent doch nur schon früher besessen, dann hätte sie vielleicht nie aus Hannai fliehen müssen. Doch dann wäre sie Lanas nie begegnet, hätte ihn nie geliebt und hätte nie seinen Sohn empfangen.

Als Lanas Kind geboren worden war, gab Patrais ihm natürlich den Namen des größten Helden ihres Stammes, denn kurz vor seiner Geburt hatte sie geträumt, daß ihr Sohn im Mannesalter Hannai einnehmen würde. Wenn die Zeit reif war, würde er, genau wie jener andere Hermil Tashrany vor vier Jahrhunderten, die Stadt in wenigen Tagen erobern und den Plan ihres Großvaters endlich umsetzen, indem er den Nachkommen des Usurpators stürzte. Und durch diesen Traum verstand sie auch, daß die Götter ihren Vater nie dazu bestimmt hatten, die Herrschaft der fremden Könige zu beenden.

Über die Freude an Hermil hatte sie dank der Gnade Amas inzwischen fast vergessen, wie mit der Ermordung ihres Geliebten die verbliebenen Reste ihres alten Lebens um sie herum in Scherben gefallen waren. Auf der Flucht aus Hannai, in jener mondlosen Nacht, während einer Rast in den Grasbergen, war ein von Lanas Vater geschickter Handlanger aufgetaucht. Er beschuldigte Lanas des Vertragsbruches und Unterschlagung, und so erfuhr Patrais, daß der Mann, den sie liebte, ein ehrloser Auftragsdieb war. Zudem war der Auftraggeber, den er betrogen hatte, niemand anderes gewesen als ihr eigener, ihr bis dahin unfehlbar scheinender Vater Nefut, der doch wie ein Oshey stets den Geboten der Weisen und Heiligen gefolgt war, so daß ihn sogar eine Unirdische als Vater ihres Kindes erwählt hatte. Doch er war nicht nur darin schlecht beraten gewesen, den König allein auf sich gestellt herauszufordern, sondern auch darin, für diese Herausforderung den Edelstein aus dem Szepter des Königs stehlen zu lassen und so schließlich doch gegen die Gebote der Menschen und Götter zu verstoßen. Vielleicht hatte er ja geglaubt, von den Tashrany-Königen genug unirdisches Blut geerbt zu haben, daß die Götter ihm verzeihen und durch den Edelstein sogar helfen würden. Aber der Dieb hatte ihn betrogen, der Stein war unauffindbar, und Nefut Tashranys Beteiligung an dem Diebstahl wurde bekannt. Und so erfuhr Patrais in jener Nacht in den Grasbergen auch, daß bereits Stunden nach ihrem Aufbruch aus Hannai die Mitglieder des Haushaltes verhaftet und Nefut selbst als Hochverräter hingerichtet worden war.

Lanas bekannte dem Handlanger seine Schuld sofort. Trotzdem wurde er kaltblütig ermordet, nachdem er den rot funkelnden Edelstein, das 'Herz Hannais', ausgehändigt hatte. Patrais meinte, ihr Herz bliebe stehen, so sehr erschütterten sie damals die neuen Erkenntnisse über das Schicksal ihres Vaters und die Bluttat vor ihren Augen. Zu keiner Bewegung fähig starrte sie den Mann an, dessen Schwert noch in der Brust ihres Geliebten steckte. Und dieser Mann starrte zurück, doch das Schwert zog er nicht aus Lanas Leib. Patrais wußte nicht, ob sie fliehen sollte oder sich ihrem Schicksal ergeben, wünschte sich gegen jede Vernunft, der Mörder würde sie einfach nicht mehr sehen, und plötzlich war er verschwunden.

Als sie endlich begriff, daß ihr keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, raffte sie die um die Feuerstelle verteilten Besitztümer zusammen und lief in die finstere Nacht. Nach Tagen oder Wochen gelangte sie irgendwie weiter in den Norden bis nach Letran und erreichte endlich das Haus von Ensha. Nicht ganz drei Jahre lebte sie nun bei der Hebamme, der sie am Tag ihrer Begegnung das Herz ausgeschüttet hatte und die seither Patrais Geheimnis getreulich hütete.

"'Neffe', was sitzt du so lange hier draußen", erklang in dem Moment Enshas tadelnde Stimme. Obwohl der Mond so hell schien, kam die Hebamme mit einer Lampe aus dem Haus. "Grübelst du wieder... oh, wer ist das denn?" Wie verzaubert betrachtete sie das kleine Mädchen, das Patrais mit beiden Armen umfangen hielt.

Einen Namen hatte die Unirdische nicht genannt, aber für Ensha brauchte sie den wohl. "Dies ist Amit", erklärte Patrais also, auch wenn Amit in der alten Sprache der Stämme nichts anderes hieß als 'Mädchen'. "Ihre Mutter ist eine Verwandte von mir und bat mich, für sie zu sorgen, bis sie von ihrer Reise zurückkehrt." Und Amit lächelte die Hebamme mit ihrem zahnlosen Mund so lieblich an.

"Bring sie schnell ins Haus, hier draußen ist es viel zu kalt für sie", mahnte Ensha und schob Patrais vor sich her durch die Tür.

Da Hermil sich noch immer zur Nacht stillen ließ, hatte Patrais genügend Milch für den Säugling. Und so lag das Mädchen wenig später selig schlafend neben Hermil in dem am Deckenbalken aufgehängten Weidenkorb in Patrais Kammer. Sie sang den beiden ein Wiegenlied der Tashrany vor, mit dem sie selbst als Kind eingeschlafen war und für einen Moment war ihr, als seien sie beide ihre leiblichen Kinder, auch wenn sie sich bis auf die Hautfarbe kaum ähnelten, der eine mit den schwarzen Locken, die auch Lanas gehabt hatte und die andere mit feinem weißen Haar, wie eine viel jüngere Version ihrer selbst. Und nach einigen Tagen war es, als wäre Amit tatsächlich schon immer in ihrer Obhut gewesen.

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