11. Kulturnachhilfe

Text

von  Elisabeth

Mitte Mai mußten wir unsere Auftritte im Nachtclub und beim Tanztee schon seit sechs Wochen ohne Holger bewältigen und es wurde immer klarer, daß wir dringend wieder einen Ersten Bass brauchten. Nicht, daß Felix und Ike mit Holgers Part überfordert gewesen wären, aber das Klangvolumen der Volltönenden hatte durch das Fehlen einer Stimme natürlich deutlich an Umfang verloren, so sehr, daß wir vom Personal des 'Flash Nights', die uns ja auch fünfstimmig kannten, darauf angesprochen wurden. In der MHS hing schon seit Wochen ein Aushang, aber die vier Bässe, die sich bisher darauf gemeldet hatten, paßten auf die eine oder andere Weise einfach nicht zu den Volltönenden.

Bei der zweiten Mai-Probe verkündete Felix endlich, daß er zumindest einen zeitweiligen Ersatz für Holger gefunden habe. Er werde ihm die Partituren unseres Repertoires zum Üben schicken und ihn zur ersten oder zweiten Juni-Probe mitbringen. Das hieß, noch einmal mindestens drei Wochen ohne fünften Mann. Wir bombardierten ihn mit Fragen zu dem Sänger, verlangten, er müsse noch im Mai antreten, aber Felix behauptete, das wäre unmöglich und verriet ansonsten nichts.

Zwei Tage später sollte abends endlich das verabredete Treffen mit Ahmet stattfinden, und genau an dem Donnerstag hatte ich vormittags auch noch meinen semesterentscheidenden Gesangsvortrag vor Professor Krieger. Während der vergangenen zweieinhalb Wochen hatte mich die Vorbereitung darauf auf Trab gehalten, aber nun war ich so bereit, wie man nur sein konnte. Bernhard begleitete mich auf dem Klavier und ich sang das Lob des Figaro auf sich selbst, als stände ich im 'Flash Nights' auf der Bühne. Professor Krieger applaudierte mir sogar und war endlich auch der Meinung, daß mir Rossini, der Belcanto und vor allem eine komische Rolle lag. Er schrieb eine entsprechende Empfehlung an seinen Kollegen, und ich durfte den Kurs wechseln. Über diesen Erfolg unterrichtete ich Felix noch aus der Hochschule telefonisch und den Rest des Tages wartete ich dann zunehmend ungeduldiger darauf, Ahmet endlich wiederzusehen, um auch ihm davon zu berichten.

Ahmet war pünktlich und sah wieder verboten gut aus, obwohl er sich anscheinend nicht einmal besonders zurecht gemacht hatte, sondern wie ein ganz normaler Student aussah. Sein Kinn zierte ein deutlicher Bartschatten, die langen Haare hatte er mit einem schon etwas zerfledderten Haargummi zusammengebunden, das ausgewaschene, schwarzes T-Shirt mit dem knallroten Rolling-Stones-Mund war so groß, daß es locker um seine breiten Schultern und die ausgeprägten Brustmuskeln fiel, und auch den Unterleib bedeckte, so daß die weite Jeans ganz anständig aussah, obwohl sie vermutlich so tief wie üblich um die Hüften hing. Noch in der Tür stehend rieb er sich mit einem frechen Grinsen die Hände und fragte, ob ich schon gegessen hätte. Als ich verneinte, kündigte er an, mich einzuladen, aber zunächst ging es zur U-Bahn-Station und mit der U-Bahn dann durch die halbe Stadt. "Du hast letztes Mal gesagt, du wolltest mich besser kennenlernen, also zeige ich dir meinen Traum", eröffnete er mir während der Fahrt.

"Ich träume davon, Theater zu spielen, das will ich schon seit der Mitte der siebten Klasse."

"Wieso weißt du das noch so genau?"

"Weil ich damals bereits ein halbes Jahr zu der Schul-Theatergruppe gehörte. Ich hatte damit angefangen, weil ich den Lehrer, der die Gruppe leitete, angehimmelt habe. Und dann merkte ich, wie viel Spaß es mir macht, in andere Rollen zu schlüpfen. Zwei der Schauspieler, die mich bisher am meisten beeindruckt haben, spielen in dem Film mit, den wir heute abend sehen werden." Und er erzählte und erzählte, von Kameraführung und Lichtregie, Bilddramaturgie und noch vielen anderen Sachen, während ich an nichts anderes denken konnte, als an seine so eifrig bewegten Lippen und mich fragte, ob sie sich doch vielleicht auch mal in meine Richtung verirren würden.

Wir stiegen an einer mir bis dahin unbekannten Station aus und gingen die Straße entlang zu einem kleinen Kino, immer mit einem halben Schritt Abstand zwischen uns, den Ahmet peinlich genau beachtete. Auf dem Weg erzählte er mir noch mehr über die Schauspieler und ihre Filme, mein inzwischen nicht unerheblicher Hunger lenkte mich aber sehr vom konzentrierten Zuhören ab. Die Rettung war ein Imbiss direkt neben dem Kinoeingang. Ahmet kaufte zwei Döner Kebab, reichte mir eines der papierumhüllten, gefüllten Fladenbrotviertel, und ich biß hungrig hinein. Und da auch Ahmet aß, wurden seine schauspieltechnischen Erörterungen so für ein paar Minuten unterbrochen. Wir hatten genug Zeit, in aller Ruhe zu essen, dann kaufte Ahmet die Kinokarten, noch eine Tüte Popcorn und zwei Cola. Etwas enttäuscht stellte ich fest, daß wir keinen aktuellen, sondern einen Schwarzweiß-Film anschauten, der so alt war, daß ich mich fragte, ob irgend einer der Schauspieler überhaupt noch lebte. Außerdem war er in englisch mit Untertiteln. Aber es war zugegebenermaßen ein spannender Krimi, auch wenn er auf den ersten Blick etwas verwirrend war und sich erst nach und nach klärte, daß alle Figuren derselben Vogelstatue nachjagten. Viel interessanter als den Film fand ich jedoch, Ahmet betrachten zu können, wie er, völlig eingenommen von dem Film, den er nach eigener Aussage doch schon auswendig kannte, auf die flimmernde Kinoleinwand schaute. Diese Begeisterung zu sehen war einfach wunderbar und steigerte seine Attraktivität so sehr, daß seine Nähe, die mir doch keine Berührung gestattete, begann, mich zu frustrieren. Um auch jede zufällige Berührung zu vermeiden, hatte Ahmet die Popcorntüte auf einen leeren Sitz zwischen uns gestellt, und obwohl er sich offensichtlich auf den Film konzentrierte, achtete er wohl auch darauf, daß wir nicht gleichzeitig hineingriffen, denn wir berührten uns noch nicht einmal mit den Fingerspitzen.

Als in dem nur halb gefüllten, kleinen Kinosaal endlich die Lichter wieder hochgedreht wurden, sah er mich erwartungsvoll an. "Na, wie hat er dir gefallen?" wollte er wissen.

"Ich verstehe zwar englisch, aber in diesem Film konnte ich den Dialogen nur schwer folgen", mußte ich gestehen. "Das, was ich dank der Untertitel verstanden habe, fand ich aber recht spannend."

"Hast du gemerkt, wie viel dieser Spannung gerade durch den Blickwinkel der Kamera erzeugt wird? Ist dir aufgefallen, daß es nur eine einzige Szene gibt, in der Sam Spade nicht auftaucht?" Ahmet war wieder ganz in seinem Element und vertrieb mir die Zeit auf dem Weg zurück mit verschiedenen Anekdoten über den gerade gesehenen Film und seine Darsteller. Auch wenn mich das wenigste wirklich interessierte, faszinierte mich seine Begeisterung und der wohlmodulierte Klang seiner Stimme. Es machte ihn so unwahrscheinlich begehrenswert, daß mir ganz warm wurde, obwohl der Abend eher kühl war. Wenn doch nur seine dumme Quarantäne nicht wäre. Aber vielleicht gelang es mir ja trotzdem, ihn dazu zu überreden, mit in meine Wohnung zu kommen und mit mir meine wunderbar breite Matratze auszuprobieren. Als wir am Fuße der Treppe zu meinem Hauseingang angekommen waren, verstummte Ahmet plötzlich und fragte nach einem Moment: "Das hat dich alles nicht besonders interessiert, oder?"

Waren mir meine abschweifenden Gedanken so deutlich anzusehen gewesen? Ich fühlte, wie mein Gesicht sich erhitzte, hoffentlich war das Laternenlicht schummerig genug, daß er nicht sah, wie rot ich wurde. "Ich habe nicht so viel Ahnung von Film oder Schauspiel", versuchte ich mich herauszureden. "Da kann ich eben nicht viel dazu sagen."

"Nächste Woche kannst du ja das Programm bestimmen", schlug er dann vor. Wenn er schon ein weiteres Treffen plante, hatte er mir meine Unaufmerksamkeit wohl verziehen.

"Soll ich dich dann Donnerstag abend abholen?" Vielleicht konnte ich Ahmet dann einmal meinen Traum zeigen. Ach, und ich hatte ihm noch nicht einmal erzählt, wie ich heute morgen Professor Krieger überzeugt hatte, daß ich diesen Traum auch umsetzen konnte.

"Ja, hol' mich ab", sagte Ahmet und lächelte mich so verheißungsvoll an, daß ich mich schon in seine Richtung neigte, um ihn zu küssen, bevor mir wieder einfiel, daß Berührungen ja bis zum 12.Juni tabu waren. "Halt dich zurück", warnte er mich auch gleich freundlich. "Bis nächste Woche also." Dann drehte er sich um und ging. Und ich nahm zwei Stufen auf einmal hoch zu meiner Wohnung, um mir dort, noch Ahmets verführerisches Lächeln vor Augen, ganz allein einen herunterzuholen.

Am Freitag versuchte ich, Opernkarten für das nächste Treffen mit Ahmet zu bekommen, denn da es unter der Woche nicht ungewöhnlich war, wenn Studenten in weniger festlicher Abendgarderobe im Publikum saßen, konnte ich ihn damit überraschen. Ich wäre so gerne in 'La Cenerentola' mit ihm gegangen, die sogar auf dem Spielplan stand, aber natürlich nun gerade nicht am nächsten Donnerstag. Und so wurde es Verdis 'Otello', den ich schätzte, auch wenn Verdi nicht mein Lieblingskomponist war. Aber bei dem Regisseur war davon auszugehen, daß es sich um eine gut gemachte Inszenierung handelte, außerdem gab Peter Glossop, mein Lieblings-Verdi-Bariton, den Jago.

Ungeduldig wartete ich auf das nächste Treffen mit Ahmet, stand am Donnerstag dann viel zu früh vor dem Haus, in dem auch ich einmal gewohnt hatte, ging eine Viertelstunde, zunehmend nervös werdend, davor auf und ab, bis es endlich fünf vor sieben war und ich die schwere Tür aufdrückte, durch das Vorderhaus und den Innenhof in das Hinterhaus und die Treppe hinauf ging. Als ich oben angekommen war, sah ich, daß die Tür meiner alten Wohnung frisch gestrichen war und an der Klingel 'Meier' stand. Ich klingelte bei 'A.Cebir'.

Ahmet ließ mich ein Weilchen warten, dann hörte ich endlich, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Die Tür wurde aufgezogen und ich sah ihm ins Gesicht. Er lächelte mich an, war wieder eher leger gekleidet, aber sah so verführerisch aus wie immer. Es war zum Verzweifeln. "Wieso bestehst du auf die Quarantäne?" fragte ich, als wir die Treppe hinuntergingen.

Es dauerte eine Weile, bevor er antwortete, vielleicht mußte er erst die richtigen Worte suchen. "Ich bin monogam, das erwarte ich auch von einem potentiellen Beziehungspartner."

"Aber es ist doch nur ein Job", wandte ich ein. "Außerdem bezweifle ich, daß ich bis Juni noch mal mit einer ins Bett muß."

"Du kannst es aber nicht wissen."

Da hatte er natürlich recht. "Aber warum ist jede Berührung tabu? Wenn wir gemeinsam keine privaten Räumlichkeiten betreten, sollte das doch sicher genug sein."

"Vielleicht ja auch nicht", gab er zur Antwort und schwieg dann beharrlich, als ich fragte, wer denn seiner Meinung nach den anderen zu irgend etwas überreden würde. Ich konnte wahrscheinlich froh sein, daß er in mir trotz meines Noch-Jobs bei der Agentur zumindest einen potentiellen Beziehungspartner sah. "Ich bin mal gespannt, ob dir gefällt, was ich für uns ausgesucht habe", wechselte ich also das Thema. "Es ist auf jeden Fall ein Stoff, der dir als Schauspieler sicher nicht unbekannt ist, da der Inhalt letztlich auf einer Tragödie von Shakespeare beruht."

"Auf welcher?" fragte Ahmet sofort, aber diesmal ließ ich ihn zappeln. "Ich dachte, wir essen erst einen Happen, es beginnt ohnehin erst um halb neun." Das italienische Restaurant, das ich als passende Einstimmung zu Verdi ausgesucht hatte, war in Opernnähe, wir bestellten und aßen Pizza quattro formaggi und Spaghetti frutti di mare. Ich freute mich über Ahmets Gegenwart und fühlte mich sehr entspannt, vielleicht wegen der Aussicht, ihm heute zumindest eine Ahnung meines Traums geben zu können.

"Mir fällt grade ein, was wir beim nächsten Mal anschauen können", eröffnete Ahmet mir beim Essen und grinste schelmisch. "Den Film kann man sogar in deutscher Synchronisierung sehen, ohne daß durch die Übersetzung viel verloren geht. Übrigens spielen wir dieses Semester Shakespeare auch..."

"Warum studierst du eigentlich nicht an einer Schauspielschule?" unterbrach ich ihn, denn jetzt wollte ich das gemeinsame Essen genießen und nicht minutenlange Monologe über die Kunst berühmter Filmschauspieler hören.

Ahmet aß langsam ein paar Happen von seiner Pizza, als brauche er Zeit um sich eine Antwort auf meine Frage zu überlegen. "Mein Vater und seine beiden Brüder sind Anfang der 60er Jahre als Fabrikarbeiter nach Westdeutschland gekommen, später haben sie ihre Frauen und Kinder nachgeholt. Ich bin noch in der Türkei geboren worden. Als mein Onkel Mehmet anfing, zu boxen, zog die ganze Familie hierher und die Männer begannen, in einem Boxstudio mitzuarbeiten. Vor einigen Jahren gründete mein Vater dann sein Fitness-Studio", erzählte er dann, als zitiere er aus einem Geschichtsbuch. "Seit ich alt genug bin, helfe ich in der Freizeit dort mit. Zur Zeit finanziere ich mir so meine eigene Wohnung." Er lächelte plötzlich. "So brauche ich mich nicht dafür zu rechtfertigen, wer bei mir kommt und geht." Doch dann wurde er wieder ernst. "Mein Vater erwartet, daß ich das Studio einmal übernehme. Und er bezahlt mir mein Sportstudium, damit ich eine fundierte Grundlage dafür schaffe. Deswegen spiele ich nur in der Theatergruppe der Uni."

Ahmets Worte erschütterten mich zutiefst. "Damit verleugnest du dich doch! Wieso lebst du den Traum deines Vaters, statt deines eigenen?"

"Was redest du denn da? Ich erfülle mir doch meinen Traum und ich liebe Sport. Außerdem erfülle ich noch meine Sohnespflicht." Das klang, als würde er es selbst glauben, aber das war doch Unfug! Er konnte den Sport nicht annähernd so lieben, wie die Schauspielerei, von der er unablässig schwärmte. Wie konnte er sich selbst nur so anlügen? Aber ich schluckte seine Erklärung stumm. Vielleicht hatte er einfach nur ein so gutes Verhältnis zu seinem Vater, daß es ihm tatsächlich eine Freude war, in dessen Fußstapfen zu treten. Ich fragte lieber nicht, ob sein Vater denn wußte, daß Ahmet schwul war. Ich mußte einfach einsehen, daß ich sein Verhältnis zu seinem Vater nicht nachvollziehen konnte und mich mit Bemerkungen zurückhalten.

"Hey, hat es dir die Sprache verschlagen?" fragte Ahmet nach einigen Momenten des Schweigens. "Der Abenteuerfilm nächste Woche wird dir gefallen, denke ich." Und er war wieder in seinem Element.

Nach dem Essen machten wir uns auf den Weg in die Oper. Natürlich bestätigte Ahmet, daß ihm Othello von Shakespeare ein Begriff sei, die italienische Schreibweise 'Otello' auf dem Transparent neben dem Eingang irritierte ihn jedoch offensichtlich, bis ich ihm erklärte, daß es sich eben um die entsprechende Oper des Italieners Giuseppe Verdi handele, die wir sehen würden, deren Textvorlage auf dem Shakespearedrama beruhte. Da wir bis zum Beginn noch ein paar Minuten Zeit hatten, versuchte ich dann, meine Liebe zur Oper zu erklären und meinen Traum, ein gefeierter Bariton zu werden. Als ich begann zu erzählen, wie ich es meiner Liebe zu Rossini verdankte, an der MHS als Student aufgenommen worden zu sein, wurde es allerdings dunkel und das Orchester begann, die Ouvertüre zu spielen.

Die Sänger dieser klassischen Inszenierung waren alle richtig gut, Glossop und der Tenor, der den Otello sang, sogar herausragend. Bei den Gelegenheiten, zu denen ich mich von der Aufführung lösen und meinen Sitznachbarn mustern konnte, stellte ich jedoch fest, daß Ahmet lange nicht so versunken wirkte, wie in der Woche zuvor im Kino. Vielleicht hatte er Probleme mit dem Italienisch, bei einer Oper gab es keine Untertitel. Doch in der Pause bemängelte er nicht die Sprache, die Geschichte von Otello war ihm ja auch vertraut, sondern er sprach von einer langweiligen weil konventionellen Inszenierung und dem mangelnden Schauspieltalent der Sänger, das sich im deutlichen 'overacting' zeige, auch wenn er dann glaubte, sich dafür entschuldigen zu müssen, als würde ich die Kritik an der von mir ausgesuchten Oper als persönliche Kritik auffassen. Mich erschütterte eher seine Bemerkung, daß die altertümliche Musik immerhin nicht weiter gestört habe. Das sorgte dann für eine etwas abgekühlte Stimmung während der restlichen Oper. Aber noch bevor der Schlußvorhang fiel, wurde mir klar, daß ich wohl akzeptieren mußte, daß unsere Geschmäcker sehr verschieden waren.

Aber natürlich hielt uns der unterschiedliche Geschmack nicht davon ab, am folgenden Donnerstag den von Ahmet ausgesuchten Film anzusehen, die Geschichte zweier völlig entgegengesetzter Sturköpfe, die mitten im afrikanischen Dschungel mit einem kleinen Boot ein feindliches Kriegsschiff versenken wollen, sich dabei näherkommen und am Ende ihren Plan tatsächlich umsetzen. Ich erkannte, daß der männliche Held vom selben Schauspieler verkörpert wurde, wie der Detektiv in Ahmets letzter Filmauswahl, was Ahmet offensichtlich als Erziehungserfolg verbuchte. Aber mit meiner zum Ausdruck gebrachten Freude über die unerwartet entstehende Liebesbeziehung der beiden Protagonisten konnte ich Ahmet nicht dazu bringen, der berührungslosen Zeit ein vorzeitiges Ende zu gönnen. Immerhin verabredeten wir ein weiteres Treffen für den ersten Donnerstag im Juni, bei dem Ahmet sich wieder meiner Auswahl unterwerfen wollte.

Um Ahmets Musikgeschmack entgegen zu kommen, entschied ich mich für die Musical-Verfilmung 'Cabaret', die ich ein knappes Jahr vorher einmal mit den Volltönenden angeschaut hatte, damit es uns leichter fiel, in die Zeit der Stücke, die wir vortrugen, hineinzufinden. Die Musik des Films war allerdings aus den Sechzigern und Siebzigern, dabei sehr eingängig und auch die Darstellung polarisierte sicher nicht so sehr wie in der Oper, denn die Rollen wurden von singenden Schauspielern und nicht von Opernsängern verkörpert.

Tatsächlich wurde es ein sehr gelungener Abend, denn Ahmet, der den Film natürlich schon kannte, mochte ihn sogar. So entschieden wir uns, unser Treffen noch ein wenig auszudehnen und den Weg vom Kino zu Ahmets Wohnung zu Fuß zurückzulegen. Wir sprachen über den gerade gesehenen Film, die zunehmende Akzeptanz eines homosexuellen Liebeslebens seit den Zwanziger Jahren, bis das mit dem Beginn der in 'Cabaret' auch thematisierten Naziherrschaft ein Ende hatte, und wie froh wir darüber sein konnten, daß diese Zeiten glücklicherweise schon lange vergangen und überwunden waren. Nach einer Weile stellten wir dann fest, daß an vielen Litfaßsäulen Plakate den bevorstehenden Christopher-Street-Day ankündigten. Da ich die CSD-Umzüge vor allem mit Männern in Frauenkleidung assoziiere, fiel mir wieder das gepunktete Kleid auf Ahmets Wäscheständer vor anderthalb Jahren ein, seine Behauptung, es sei seines und seine Weigerung, es für mich anzuziehen. Dabei schminkte er sich doch auch außerhalb seiner Theaterauftritte, wie ich am ersten März hatte sehen können.

"Aber ich verkleide mich nicht als Frau", widersprach er, als ich ihn daran erinnerte. "Auf der Bühne spiele ich gelegentlich Frauenrollen, nicht einen Mann in Kleidern. Dann BIN ich gewissermaßen eine Frau."

"Weil es dich anmacht", vermutete ich.

"Weil ich das als schauspielerische Herausforderung sehe", behauptete er. "Um eine Frau darzustellen, muß ich ja nicht nur die Kleidung einer Frau tragen, ich muß mich wie eine Frau bewegen, wie eine Frau sprechen, und dabei meine ich nicht die hohe Stimme. Ist dir mal aufgefallen, daß Frauen einen ganz eigentümlichen Sprachduktus haben? An Bewegung und Sprache erkennt man, ob man es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat, egal wie sie gekleidet sind."

"Dich würde ich immer als Mann erkennen, egal wie weiblich du zurecht gemacht bist", sagte ich, um ihn ein bißchen zu provozieren. Es war sicher unmöglich, daß er seine breiten Turnerschultern irgendwie in einem Kleid versteckte.

"So, meinst du", ging er auf meine Herausforderung ein.

"Ja, ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß du es nicht schaffst, dich so perfekt zu schminken und zu stylen, wie es 'ne durchschnittliche Drag Queen auf dem CSD schafft", behauptete ich, obwohl ich in dieser Beziehung gar nicht so sicher war.

"Da halte ich dagegen", sagte Ahmet überzeugt. Er blieb plötzlich stehen und ich erkannte, daß wir unser Ziel erreicht hatten.

"Okay, du kannst es mir am Sonnabend zeigen. Am achten ist ja der CSD und..."

Ahmet schüttelte bedauernd den Kopf. "Nein, das kann ich nicht. Ich werde weder hingehen und zugucken, noch mitmarschieren. An dem Tag feiert mein Papa ganz groß seinen Fünfzigsten, und ich meine selbst für türkische Verhältnisse richtig groß."

"Na, dann werde ich wohl nie erfahren, wer von uns beiden recht hat", sagte ich, um ihn noch ein bißchen zu necken.

Ahmet zuckte mit den Schultern, suchte den Haustürschlüssel heraus, steckte ihn in das Schloß. "Wir treffen uns am Sonnabend nächster Woche um acht", sagte er dann plötzlich.

"Willst du unser Donnerstagstreffen etwa ausfallen lassen?" Ich war sehr enttäuscht, ihn nicht gleich am Tag nach meinem Ausscheiden aus der Agentur in die Arme schließen zu dürfen.

Ahmet sah mich einen Moment an, verstand sicher den Grund für mein langes Gesicht und lachte. "Aber nein, ich hole dich am Donnerstag um sieben ab, werde dich in einen meiner Lieblingsfilme ausführen und mit dir in aller Form das Ende der Quarantäne feiern. Am Sonnabend habe ich etwas anderes mit dir vor." Und jetzt grinste er sehr frech. "Laß dich überraschen."

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