Dunkle Löcher im Kopf

Skizze zum Thema Gefangen

von  tulpenrot

schlimm ist es

wenn einem Menschen

Gedanken und Begriffe zerbröseln

während er etwas sagen möchte

wenn Zusammenhänge zerreißen

und er sie nicht mehr flicken kann

immer häufiger erlebt er es

täglich

stündlich

ohne Voranmeldung

erstürmt Verwirrung neues Territorium

dieses und jenes wird fremd

sogar furchterregend

nichts mehr passt zusammen

 

nur die Unsicherheit gewinnt an Boden

im Umgang mit sich selbst

mit anderen

dunkle Löcher hausen im Kopf

oder undurchdringliches Dickicht versperrt Tor und Tür

den Ausgang

kennt niemand




Anmerkung von tulpenrot:

Gedanken im Anschluss an zwei erschütternde Begegnungen gestern - ohne Anspruch darauf, das Phänomen hinreichend beschrieben zu haben.

Ich danke allen Kommentatoren und den vielen, die diesen Text mit einer Empfehlung versehen haben: ginTon, Achter Zwerg, willemswelt, Janna, Redux, niemand, Brot, AZU20, GastIltis, Gabyi, minimum, Muckelchen, franky, lugarex

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Kommentare zu diesem Text


 franky (01.03.24, 10:09)
Versuchen dem Löchermacher das Handwerk zu legen.
Mehr oder weniger werden wir davon befallen, je älter man wird.
 
Liebe Grüße von Franky

 tulpenrot meinte dazu am 01.03.24 um 14:27:
Wenn ich es diesen Menschen nur leichter machen könnte! Im Moment bin ich nur auf der Hut, keinen zu großen Schaden anzurichten durch ungewollt womöglich unangemessene Antworten. Danke für deinen Kommentar und die "Sternchen".
LG Angelika

 AZU20 (01.03.24, 16:27)
Mit Begeisterung gelesen. LG

 tulpenrot antwortete darauf am 01.03.24 um 20:19:
Danke dir und LG in deinen Abend

 Redux (01.03.24, 18:18)
Deine Momentaufnahme macht betroffen und erinnert daran, dass es jeden treffen kann.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 01.03.24 um 20:25:
Mir tun die Menschen unendlich Leid. Sie sind ja nicht nur "schrullig" oder vergesslich, sondern sie merken ja oftmals, dass etwas nicht mehr stimmt mit ihnen. Mir macht diese Vorstellung, dass ich vielleicht auch einmal in eine solche Lage komme, große Angst - dass ich "den Verstand verlieren" könnte.

 Quoth äußerte darauf am 01.03.24 um 22:28:
Wann überschreitet normale Altersvergesslichkeit die Grenze zur Demenz? Das ist wohl die Frage die viele von uns älteren bedrückt. 
Danke für Deinen Text.

 Quoth ergänzte dazu am 01.03.24 um 22:28:
(doppelt)

Antwort geändert am 01.03.2024 um 22:29 Uhr

 tulpenrot meinte dazu am 02.03.24 um 04:41:
So weit ich beobachten kann, geht es wohl schleichend vor sich. Endgültige Antworten zur Grenze, die man vielleicht erreicht hat, kann (können) wohl nur eine (mehrere) Untersuchung(en) beim Neurologen geben. Ich weiß bisher nicht, ob und wie man sich als womöglich Betroffene(r) darauf vorbereiten kann. So weit ich bei den von mir beobachteten Fällen sehen kann, hat es auch mit Erblichkeit zu tun oder mit anderen Vor-Erkrankungen.

 Janna (01.03.24, 21:48)
Hervorragend beschrieben. Das Grauenhafte wird spürbar.

Liebe Grüße

Janna

 tulpenrot meinte dazu am 02.03.24 um 04:46:
Danke, Janna. Ich hatte mich bisher nicht so sehr mit diesem Thema beschäftigt (hatte andere "Baustellen"). Aber nun kam dies Thema unausweichlich auf mich zu.
Liebe Grüße auch an dich
Angelika
Brot (39)
(01.03.24, 22:38)
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 tulpenrot meinte dazu am 02.03.24 um 04:49:
Wenn man so etwas liest, ist es sehr ermutigend mitzubekommen, dass es Menschen gibt, die sensibel und einfühlend den/die Erkrankten zu begleiten wissen.
Brot (39) meinte dazu am 02.03.24 um 16:41:
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 AchterZwerg (02.03.24, 06:29)
Liebe Angelika,
da ich nun ebenfalls langsam (!) dem Teenageralter entwachse, habe ich öfter Begegnungen dieser Art.
Als besonders bedrückend empfinde ich es, wenn hochintelligente Menschen (zunächst) mit Wortfindungsstörungen zu kämpfen haben - und dies bemerken.
Es tritt dann eine dunkle Verzweiflung auf, die sich in deren Augen spiegelt.

Mögen es die Götter noch lange gut mit uns meinen!

 tulpenrot meinte dazu am 02.03.24 um 07:56:
Liebe Heidrun,
ja, das ist wirklich bedrückend - und vor allem, wenn die Betroffenen im wahrsten Sinne selber darunter leiden, weil sie den Verfall bei vollem Bewusstsein registrieren! Sich selber dabei zusehen, wie einem der Verstand abhanden kommt - ich finde es fast schlimmer als körperliche Hinfälligkeit. (Bei letzterem kann ich ja sogar mitreden.)
Ich hoffe für uns beide (und für ganz viele andere), dass wir von solchem Übel noch lange, am besten überhaupt, verschont bleiben.
LG Angelika
Angelika

 ginTon (03.03.24, 23:40)
ein sehr schöner Text, obwohl ich mich frage, ob es physiologisch und geistig wirklich so nachempfunden wird, das Vergessen, ist ja ursprünglich auch eine angeborene Leidenschaft des Gedächtnisses, Platz zu schaffen. in diesem Sinne denke ich nicht, dass derjenige selbst diese Sicht auf die Dinge hat, sprich, laut den ersten Zeilen, dass dies bedeutet, dass sich der- oder diejenige sich selbst beim Prozess des Vergessens begleitet oder diesem zuschaut, aber ist dies wirklich so? auf jeden Fall erregt das Ganze sehr viel Mitgefühl, dies steht fest. also ist es dann nicht eher die Realität der Mitleidenden?

Kommentar geändert am 03.03.2024 um 23:42 Uhr

 tulpenrot meinte dazu am 04.03.24 um 07:17:
Das ist ja das Schlimme, dass diese Menschen (meine)  ihre Verwirrtheit (womit nicht allein das Vergessen, das "selige" gemeint ist) selbst registrieren und darunter leiden. Sehr - in meinem Fall. Und mein Text ist auch nicht aus Mitgefühl (das wäre in diesem Fall zu wenig), sondern aus tiefem Erschrecken heraus geschrieben.
Tut mir Leid, wenn das nicht herüberkommt.

Antwort geändert am 04.03.2024 um 07:43 Uhr

 ginTon meinte dazu am 04.03.24 um 11:22:
nein, keine Sorge, der Text ist gut geschrieben, ich habe nur laut nachgedacht. weil mir auf einmal ein Gedanke dazwischen funkte. So in der Art: Wie will man wissen, wenn man etwas vergessen hat, dass man es vergessen hat? aber wie gesagt, dies hat nix mit deinem Text zu tun. wie gesagt, ich finde diesen eindringlich geschrieben...

 tulpenrot meinte dazu am 04.03.24 um 12:11:
Ich verstehe schon, was dir durch den Kopf ging, aber es trifft nicht auf die Menschen zu, mit denen ich es zu tun habe. Sie "wissen" z.B. was sie sagen wollen oder tun wollen, aber ihnen fehlt ein kleines oder großes Mosaiksteinchen (ein Wort oder ein abschließende Gedanke) am Ende, um sich ihrer Umwelt (oder auch sich selbst) verständlich zu machen oder um die Handlung zu Ende zu führen. Der Faden reißt vorzeitig. Sie werden ärgerlich oder aggressiv, aus dem Gefühl der Ohnmacht, oder verstummen lautlos und resigniert. 
Aber wie gesagt - alles auch nur bruchstückhafte Gedanken und Beobachtungen von mir.

 ginTon meinte dazu am 06.03.24 um 21:14:
interessant, weil es ja letztendlich auch solche Beobachtungen sind, die dazu beitragen, die Komplexität dieser neurophysiologischen Erkrankung eines Tages komplett zu verstehen. deswegen war meine ganze Fragerei eher der Neugierde geschuldet und spricht somit automatisch für dein Werk...  ;) :)

 AvaLiam (02.04.24, 21:37)
ich habe den Zerfall meiner Oma langsam und Stück für Stück miterlebt... sie sagte mal zu mir: "Am schlimmsten ist es, wenn ich in der Türschwelle stehe von einem in den anderen Raum, vom Hier und Jetzt ins Nichts, ein beängstigender Nebel, in den ich hineingehen muss, ängstlich, ohne zu wissen, ob ich je wiederkehre... und wenn ja, wie und für wie lange."

Ich weiß nicht, was mich mehr berührt hat - die kindlichen, verzweifelten Tränen oder ihre Aussage...

...oder deine Zeilen...


Liebe Grüße,
Ava

 tulpenrot meinte dazu am 03.04.24 um 08:58:
Die Worte deiner Oma passen genau zu meinen Beobachtungen. Das ist wirklich sehr berührend, dieses Erleben bzw. einen Menschen so zu erleben und zu begleiten. Es tut weh, diesen unaufhaltsamen Verfall nicht oder kaum beeinflussen oder das Leiden daran mildern zu können.
Danke für diesen eindrücklichen Kommentar.
Viele Grüße
tulpenrot
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