Gedichte in Schönschrift

Bericht zum Thema Buch/ Lesen

von  eiskimo

Joachim ist tot. Was ich von ihm noch behalten habe, das ist ein Band Gedichte, den er mit viel Liebe und Zeitaufwand einmal geschrieben hatte. Joachim schrieb gerne Gedichte. Besser gesagt: Er malte sie.

Denn Joachim schrieb sie nur ab, die Gedichte .... von großen Autoren. Aber was ihn dabei zu einem feinen Maler machte: Er kopierte sie in allen möglichen Schriftarten, sozusagen kalligraphisch. Ob Gothic, Tangerine, Cathalia oder die eigene Schreibschrift, Sütterlin oder auch mal MV Boli – er hatte ein Händchen für Schönschrift.

So bat er seine Freunde gerne um Aufträge: Schickt mir euer Lieblingsgedicht, sagte er, und ich baue es ein in einen bunten Sammelband. Darin findet ihr nicht nur euren Text kalligraphisch neu verpackt, sondern auch euch selbst, weil ich immer dazu schreiben werde, wer mir das entsprechende Gedicht zur Verschönerung eingereicht hat.

Der Band, in welchem auch mein Wunschtext vorkommt, ist gespickt mit den Vorschlägen anderer Freunde: mit Kästner, Eichendorff, Goethe, Thoma, Ringelnatz, Loriot, Gernhardt, Morgenstern, Meckel.... Ich bin der einzige Wilhelm Busch, und ich stehe auch ziemlich weit hinten.

Vielleicht ist es gut so, denn ich hatte mir ausgesucht „Der verhinderte Dichter“.

Falls jemand bei KV diesen spöttischen Busch-Text nicht kennt, hier ein paar Zeilen - vielleicht, um sich wiederzuerkennen.

Im Durchschnitt ist man kummervoll

Und weiß nicht, was man machen soll.

Nicht so der Dichter. Kaum missfällt

Ihm diese altgebackne Welt,

So knetet er aus weicher Kleie

Für sich privatim eine neue

Und zieht als freier Musensohn

In die Poetendimension.


(das ist doch schon eine durchaus aktuelle Personen und Lagebeschreibung!

Und man könnte unwillkürlich an KV denken.)


Der Dichter, dem sein Fabrikat

So viel Genuss bereitet hat

Er sehnt sich sehr, er kann nicht ruhn

Auch andern damit wohlzutun.


(aber Busch kenn noch kein Internet, dafür das Lyrich seine geliebte Laura ...)


Sie flüstert schmachtend inniglich

Göttlicher Mensch, ich schätze dich!

Und daß du so mein Herz gewannst

Macht bloß, weil du so dichten kannst!“


Frau darf heutzutage an dieser Stelle gerne innehalten und fragen, ob die Dichtkunst für Wilhelm Busch nur eine Waffe der Männer war, denn er endet wiederum sehr einseitig


Oh, wie beglückt ist doch ein Mann,

Wenn er Gedichte machen kann!


Wahrscheinlich ahnte Wilhelm Busch schon, dass er mit dieser überkommenen Männer-Sicht, vor allem aber seinen simplen Reimen, in einem modernen Literatur­Forum kaum geliked worden wäre. Frauenfeindlich, unpolitisch, zu konformistisch, mainstream….Darum, denke ich, wählte er wohl sehr vorausschauend diese Überschrift: „Der verhinderte Dichter“.,

Meinem Freund Joachim war das damals, als er den Text für mich transskribierte, wohl völlig egal. Er selber, der ja nur die Texte der Großen abschrieb, war ja auch einer.




Anmerkung von eiskimo:

Für mich faszinierend: Die Präsentation in einer besonderen Schrift verändert tatsächlich das Leseerlebnis.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (12.06.24, 06:40)
Sie flüstert schmachtend inniglich
Göttlicher Mensch, ich schätze dich!
Und daß du so mein Herz gewannst
Macht bloß, weil du so dichten kannst!“
So ergeht es Sigi, Stefan und mir fast jeden Tag, nämlich immer dann, wenn wir an unsren Forengatten Dropsi denken:

Denkst du an Teo in der Nacht,
bist du schon um den Schlaf gebracht!


Und dies alles in Sütterlin! 
Eine andere Schrift kennt Teo halt nicht. :)

 eiskimo meinte dazu am 12.06.24 um 11:43:
Poesie wie Dynamit sozusagen, oder ist es mehr ein Weichmacher? :P

 AZU20 (12.06.24, 10:22)
Deine Anmerkung trifft den Kern. LG

 eiskimo antwortete darauf am 12.06.24 um 11:45:
Für manche Inhalte ist eine stilvolle Verpackung schon wichtig!
LG

 Dieter_Rotmund (12.06.24, 17:15)
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