Vom einsamen Wutan und einem wunderbaren Frieden

Märchen zum Thema Verantwortung

von  eiskimo


Es gab einmal ein Riesenreich mit großen Bodenschätzen und vielen klugen und arbeitsamen Menschen. Es wurde aber sehr schlecht regiert, so dass dieses so große Reich im Vergleich zu den Nachbarländern gar nicht gut wegkam.

Das nutzte ein schlauer Funktionär namens Wutan, der sich bestens im Innenministerium und bei der Armee auskannte, und da das Glück ihm hold war, konnte er die Macht übernehmen mit dem Versprechen, dass er dem Riesenreich sehr schnell zu Wohlstand und gebührendem Ansehen verhelfen würde – er benötige dazu nur mehr Vollmachten und die Möglichkeit, gegen mögliche Widersacher hart durchzugreifen.

Gerne gab man ihm diese Freiheit, nicht ahnend, dass das im Gegenzug auch eigene Freiheiten würde kosten können.

Leider schaffte Wutan es nicht, dem einstigen Riesenreich wirklich wieder gerechten Wohlstand zu bescheren. Im Gegenteil – nur relativ wenige Günstlinge profitierten von seinem Regime.

Als sich daraufhin Unwillen breit machte und tatsächlich erste Gruppierungen entstanden, die offen Wutans Versprechen auch für alle im Lande einforderten, musste dieser hart durchgreifen.

Um von seiner schlechten Politik abzulenken, machte Wutan dann das, was andere Dikatoren bei derartigen Problemen auch immer vorexerzieren: Er bezichtigte das Nachbarland, gegen ihn und seine Politik zu intrigieren, schlimmer noch: Auf einen Umsturz hinzuarbeiten. Und er rief sein Volk zu vaterländischer Geschlossenheit auf , notfalls auch – falls der Nachbar sich nicht unterwarf – zum Krieg. Mit dieser Bedrohungsmär, die Wutan lauthals im ganzen Land verbreiten ließ, konnte er nun noch unkontrollierter vorangehen.

Da sich zwar seinVolk, nicht aber das Nachbarland einschüchtern ließ. war Wutans nächster Schritt schon programmiert. Er erfand einen Vorwand, um diese „unverschämte Bedrohung von Außen“ unmittelbar an der Quelle zu beseitigen, das heißt: Er begann einen Krieg.

Die Nachbarn jenes Nachbarlandes, die lange versucht hatten, Wutan von diesem Übergriff abzuhalten, hielten natürlich zu dem Überfallenen, und sie schickten sogar Waffen, damit sich das deutlich unterlegene Land wehren konnte.

Tatsächlich wurde durch diesen Zusammenhalt eine rasche Eroberung verhindert. Dass er trotz materieller Überlegenheit keinen raschen Erfolg vorweisen konnte, erklärte Wutan mit Verrat und Inkompetenz einiger seiner Generäle, die er prompt liquidieren ließ. Deren Verschwinden machte im Lande allen klar, dass es kein Pardon gab, für keinen.

Es entwickelte sich dann ein jahrelanger Krieg, der mit immer brutalerer Waffentechnik ausgefochten wurde und immer mehr Menschen in Miteleidenschaft zog, auf beiden Seiten. Wutan focht das nicht an, denn er hatte schnell erkannt, dass ihm diese Dauerkrise ebenso dauerhafte Vorteile verschaffte. Seine Führer-Rolle wurde sklavisch ertragen; zumindest die einfachen Leute wussten, dass sie sich zu arrangieren hatten. Wutans Günstlinge profitierten sowieso vom Krieg – blieben also nur die unmittelbar in die Kriegshandlung hinein Gezwungenen, die jeden Tag damit rechnen mussten, dass Wutans Spezialoperation ihr Leben kosten würde, entweder, weil sie an der Front fielen oder weil sie wegen Misserfolgs liquidiert wurden.

Die Generäle hatten deshalb früh gelernt, niemals eigene Fehler zuzugeben. Was sie ihrem obersten Feldherrn meldeten, war also immer geschönt. Warum Wutan das nicht merkte? Er war weit weg in seinem Kommandozentrum, gut geschützt, und da er täglich Hunderte Berichte von der Front bekam, konnte selber gar nicht mehr nachvollziehen, wo nun die Wahrheit lag.

Was den Generälen dabei sehr entgegen kam, war der der Umstand, dass dieser Krieg mehr und mehr zum Cyberkrieg mutierte – ferngesteuerte Drohnen und Marschflugkörper hatten längst die physische Begleitung durch Menschen überflüssig gemacht. Entsprechend ferngesteuert waren auch die Rückmeldungen, die über die Operationen eingingen. Was da also an IT-Bildschirmen hin- und hergerechnet und online übermittelt wurde, war von den einschlägigen Militärs manipulierbar.

Und nun beginnt das eigentliche Märchen!

Denn eine extrem gute Fee – auch extrem gut mit den Hackern auf beiden Seiten der Front vertraut – flüsterte nun den für die Spezialoperation abgestellten Obristen ein, nicht nur ihre Lageberichte schön zu färben, sondern diese gänzlich von der Wirklichkeit abzukoppeln. Anders ausgedrückt: gar keine realen Kriegshandlungen mehr auszuwerten, sondern nur noch virtuelle.

Da sie schon einige Kriegsjahre lang Material hatten anhäufen können über das Vor und Zurück an der Front, war das Produzieren dieser Fake-Bulletins überhaupt kein Problem. Wutan bekam weiterhin absolut realistisch erscheinende Daten und Bilder – er konnte sich also weiter in der Rolle des Feldherrn aller Feldherren gefallen - der Unterschied war nur, dass in den entsprechenden Frontabschnitten überhaupt nicht mehr gekämpft wurde,

Denn auch dafür hatte die extrem gute Fee gesorgt: Der angeblich so bedrohliche Feind hatte die ersten Anzeichen dieses nur noch „gespielten“ Krieges sofort verstanden. Dank der Hacker. Also „spielte“ auch er spontan mit. Was vorher blutiger Ernstfall war. wurde also nur noch gemimt. Kurzum: Es „tobte“ da nur noch eine gewaltige Computer-Animation.

Um Wutan nicht misstrauisch werden zu lassen, inszenierten die Generäle reihum in den angeblich neu eroberten Gebieten Siegesfeiern mit live eingespielten Dankesshymnen der so glücklich Befreiten – alles kein Problem: Die einfachen Leute waren in Wutans Reich ja an derartige Schauspiele gewöhnt, und genossen als Gegenleistung für so einen Auftritt gern ihren Tag Sonderurlaub.

Damit kam tatsächlich – wer hätte das noch gedacht? - so etwas wie ein umfassender Waffenstillstand zustande. Nur einer kämpfte noch unerbittlich: Wutan. Der operierte weiter in seinem abgeschirmten Komandozentrum als Feldherr aller Feldherrn an seiner als historisch verinnerlichten Eroberungsmission.

Ja. Und wenn er nicht gestorben ist, dann operiert er noch heute.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (13.09.24, 23:33)
Das wäre ein Ausweg aus dem Treiben Wutans und seiner Spezialoperation ... wenn es gute Feen gäbe.

 eiskimo meinte dazu am 14.09.24 um 09:47:
Extrem gute Feen....
Danke auch für die Empfehlung, die freut mich besonders!
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