Michael Schulze wurde an einem Mittwoch geboren. Niemand gewann eine Wette damit. 3.380 Gramm Fleisch, 50 cm Hoffnung, die nach zehn Minuten durch den Windeleimer wehte. Seine Mutter, Friseurin, dachte: Wird schon. Sein Vater, früher Maschinenbauer, jetzt LKW-Fahrer, dachte dasselbe, sagte aber nichts. Kindheit in Leipzig-Grünau. Ein Hochhaus, das aussah wie ein ausgebleichter Zahn. Spielplatz mit mehr Glasscherben als Sand. Das erste Fahrrad mit 10: aus drei Schrotträdern zusammengeschweißt. Hielt genau drei Wochen, dann flog das Vorderrad in den Gegenverkehr.
Mit 14 begriff Michael, dass Zukunft nur ein Berg aus mittelmäßigen Entscheidungen war, die man mit „Tja, so läuft das eben“ verteidigte. Das erste Tattoo mit 18, ein chinesisches Zeichen aus einer Mappe. Später googelte er: „Mitlaufender Wind“. Sah cool aus, bedeutete nichts. Passte.
Mit 20 gab es nichts zu tun, also packte er Kisten in einem Lager. Dann Handwerk. Dann wieder Lager. Einmal Maloche, immer Maloche. Der Körper war jung, also tat er, als wäre das normal. Seine Freundin zog nach Berlin und Er hatte es versprochen.
Nicht einfach so, sondern mit diesem Blick, den man hat, wenn man weiß, dass man lügt und hofft, dass es trotzdem wahr wird.
„Ich komm vorbei, echt jetzt.“
„Klar“, hatte sie gesagt. „Ich halt nicht die Luft an.“
Sie hatte gelächelt, aber ihre Stimme war hohl. Nicht wütend, nicht traurig – nur müde.
Das nächste Mal, als ihr Name auf seinem Display auftauchte, war es nicht sie. Es war ihr Bruder.
„Sie hat gefragt, ob du noch kommst“, sagte er.
Er fuhr hin. Nicht ins Krankenhaus – das war zu spät. Direkt zur Beerdigung.
Viel zu wenige Leute da. Sie hatte immer gesagt, sie will eine große Abschiedsparty. Kein Schwarz, keine Tränen. Einfach nur Musik, Lachen, Geschichten.
Stattdessen: graue Mäntel, leere Blicke.
Er blieb bis zum Schluss, als alle gingen. Stand da, während der Wind Erde in das Loch wehte.
Dann fiel ihm ein, dass er ihr nie gesagt hatte, warum er nicht gekommen war.
Er holte sein Handy raus. Ging in den Chat. Die letzte Nachricht von ihr: „Na, lebst du noch?“
Er tippte eine Antwort. Seine Mutter sammelte Treuepunkte aus dem Supermarkt. Michael zahlte bar. Mit 30 knackte der Rücken, mit 34 das Knie. Der Arzt empfahl Sport. Michael empfahl dem Arzt, die Fresse zu halten.
Mit 40 starb seine Mutter. Beerdigung. Leute, die er seit 20 Jahren nicht gesehen hatte, nickten ihm zu, als wäre das hier ein Klassentreffen. Ihr letzter Wunsch war, dass die Kristallfiguren mit ins Grab kommen. Eine fehlte ihr immer.
Mit 45 wurde er befördert. Eine Zeile mehr auf dem Lohnzettel, drei Zeilen mehr auf dem Krankenschein.
Mit 50 Auto kaputt. Reparatur zu teuer. Busfahren fühlte sich an wie ein Witz, den man erst zu spät versteht.
Mit 55 neues Tattoo. Ein Kompass, der nach unten zeigte.
Mit 60 Arztbesuch. „Rauchen Sie?“ Michael sagte: „Nein.“ Wollte noch eine Weile Spaß haben. Der Arzt lachte nicht.
Mit 63 Rente. Ein Brief vom Amt, kein Trommelwirbel, keine Blumen, nur die trockene Erkenntnis, dass er ab jetzt von Geld lebte, das jemand anders verdient hatte.
Mit 65 letzter Umzug. 1-Zimmer, alles griffbereit. Drei Kartons mit Dingen, die nie wichtig genug waren, um wegzuwerfen, aber nie nützlich genug, um sie auszupacken. Findet eine alte Moby-Platte. Hört „Porcelain“ auf Repeat und denkt, das sei ein Zeichen
Mit 67 steht er im Supermarkt. Kassierer: „Haben Sie Treuepunkte?“
Michael überlegt.
Dann sagt er: „Wofür?“
Die Kassiererin piept die letzten Artikel über den Scanner. Niemand sieht, wie er in die Plastiktüte starrt, als könnte er da noch was anderes rausholen als Essen.