Die Macht der Rede

Aufruf zum Thema Abhängigkeit

von  Graeculus

Der Athener Demosthenes, das Urbild der Redners, hat mit seinen Philippischen Reden seine Mitbürger in den Krieg gegen Philipp von Makedonien geführt.

Der Römer Cicero hat mit Reden, die er nach seinem Vorbild ebenfalls Philippische nannte, Marcus Antonius bekämpft und bis zur Weißglut getrieben, sodaß dieser ihn ermorden und ihm die Zunge, diese verdammte Zunge aus dem Mund schneiden ließ.

Papst Urban II. hat in Clermont in einer Rede zum Kreuzzug gegen die islamische Besetzung der Heiligen Stätten in Palästina aufgerufen, bis die begeisterte Menge „Gott will es! Gott will es!“ skandierte.

Joseph Goebbels hat in seiner Berliner Sportpalastrede die Menschen im Saal dazu gebracht, dem totalen Krieg zuzustimmen.

John F. Kennedy hat vor Hunderttausenden Westberlinern der Stadt die Unterstützung der USA gegen die Machtübernahme durch die UdSSR und die DDR zugesichert: „And therefore as a free man I am proud to say, Ich bin ein Berliner!“

Martin Luther King hat in Washington D.C. 250.000 Menschen für seinen Traum von einer Gesellschaft gleicher Bürger ohne Rassismus begeistert.

Keiner von ihnen hat einen Teleprompter oder Powerpoint benötigt.


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Kommentare zu diesem Text


 dubdidu (02.10.25, 15:59)
Niemand benötigt ihn heute und das sogenannte Outsourcing führt durch das Einsparen von Gehirnleistung auch in keinem anderen Bereich zu höheren Leistungen. Es freut sich der Hersteller.

 Graeculus meinte dazu am 02.10.25 um 16:10:
Sie sind ja fast allgegenwärtig, diese Teleprompter, habe ich gemerkt, nachdem ich begriffen hatte, was diese durchsichtigen Scheiben rechts und links vom Redner eigentlich bedeuten.
Trump hat sich ja kürzlich bei seiner Rede vor der UNO-Generalversammlung beschwert, daß der Teleprompter nicht funktioniere (ebenso wie die Rolltreppe); und seine Rede schien mir dann auch besonders wirr.

Im Bundestag: keine Teleprompter, soweit ich sehe, aber die Reden werden vom Blatt abgelesen.

Die frei vorgetragene, packende Rede ist sehr selten geworden. Und mir scheint, man kann nicht packend reden, wenn man abliest, gleich ob vom Blatt oder vom Teleprompter.

Antwort geändert am 02.10.2025 um 16:36 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 02.10.25 um 16:16:
Notabene: Demosthenes und Cicero haben das lernen müssen; Martin Luther King war ein Geistlicher, und ich bin mir sicher, daß auch bei ihnen die Kunst der Rede zur Ausbildung gehört.

 dubdidu schrieb daraufhin am 02.10.25 um 16:16:
Die frei vorgetragene, packende Rede ist sehr selten geworden. Und mir scheint, man kann nicht packend reden, wenn man abliest, gleich ob vom Blatt oder vom Teleprompter.

Ein 100-prozentiges, doppeltes, dreifaches JA. Ich muss auch sagen, dass ich ein paar (nicht die Mehrheit) exzellente Redner als Profs hatte, mit dem Ergebnis, dass ich mir die Inhalte sehr gut merken konnte.

 Graeculus äußerte darauf am 02.10.25 um 16:48:
Ich hätte mich auch kürzer ausdrücken können:

Ich: "Du, dubdidu, ich bin eben komplett gescheitert."
dubdidu: "Wobei?"
Ich: "Ich habe versucht, mir Demosthenes und Cicero mit Powerpoint vorzustellen."

Leibhaftig habe ich in meinem Leben nur einen exzellenten Redner gehört. Nein, kein Professor, sondern Pater Leppich, den man "das Maschinengewehr Gottes" nannte. Über die Titulierung kann man streiten, aber ich war stark beeindruckt.

Daß man sich durch einen Lehrervortrag Inhalte besser merken könne, entspricht wohl nicht dem Standpunkt der gegenwärtigen Didaktik; aber vermutlich können zu wenige Lehrer gut vortragen.

 dubdidu ergänzte dazu am 02.10.25 um 17:13:
Die Kurzform finde ich auch super!

Power Point hat mich immer irritiert, fand ich redundant und ablenkend. Das passt zu dem inhaltlosen Geseier im Marketing. Nächste Woche höre ich Theweleit in Basel, mal sehen, wie der spricht.

Der Standpunkt der gegenwärtigen Didaktik ist auch nur das: ein Standpunkt, der möglichst viele gleichzeitig abholen will, also auf Durchschnitt zielt.

Ich bin ein Beispiel dafür, wie stark sich gelungene vs. misslungene Rede auf Aufmerksamkeit und Gedächtnis auswirken kann. Im ersten Fall brauche ich nur noch eine minimale Klausurvorbereitung und behalte die Inhalte jahrelang, im zweiten Fall schweife ich sofort ab.

 Moppel meinte dazu am 02.10.25 um 21:17:
Leppich war klasse. Weil er auch den kölschen Humor hatte. Und weil man davon ausgehen kann, dass er niemanden in einen Krieg reden will. :)
Und heute? Dein Text, Graeculus, soll uns ja sicherlich etwas für heute mitgeben.
In welchen Krieg reden uns Trump, Merz, Kiesewetter und andere-  wie sagt Aaron so schön Papageien?

 Quoth meinte dazu am 02.10.25 um 22:49:
Die frei vorgetragene, packende Rede ist sehr selten geworden. 
Komisch, die einzigen im Bundestag, die mich packen können, sind Gysi und Reichinnek. Und sie reden frei. Der Rest: Parteisoldaten und -soldatinnen.

 Graeculus meinte dazu am 03.10.25 um 14:21:
An Moppel:

Ah, du kennst ihn noch, den Pater Leppich. Ist lange her, gelt?
Was das Heute angeht: Ich ziele nicht auf bestimmte politische Inhalte (und habe auch in meinen Beispielen aus der Tradition sehr gegensätzliche versammelt), sondern darauf, was Teleprompter und Powerpoint mit der Kunst der Rhetorik angerichtet haben. Vielleicht gilt das für jede Technik: daß wir sie einsetzen und dadurch das, was sie ersetzt, verlernen.

Gegenwärtig kenne ich keinen beeindruckenden Redner mehr, dem ich mit Freude zuhöre. Über Gregor Gysi als mögliche Ausnahme äußere ich mich dann zu Quoth.

 Graeculus meinte dazu am 03.10.25 um 14:27:
An Quoth:

Von Heidi Reichinnek kenne ich keine Rede, sondern lediglich die kurzen Ausschnitte, die in den Nachrichten zu sehen sind. Da ist mir keine faire Beurteilung möglich.
Gedacht habe ich bisher, daß sie im wesentlichen ein TikTok-Phänomen ist, und da handelt es sich ja um 30-Sekunden-Spots, oder?

Von Gregor Gysi habe ich einmal einen kompletten Vortrag leibhaftig erlebt und hatte einen Eindruck, den ich auch später bestätigt gefunden habe: Es lohnt sich, ihm zuzuhören, und es kommt keine Langeweile auf.
Bei dem erwähnten Vortrag gab es anschließend sogar eine echte Diskussion. Er wollte höhere Steuern für Reiche, und die dann absehbare Kapitalflucht wollte er durch Sperren bekämpfen. Da man Geld natürlich im Koffer mitnehmen kann, lag die Frage nahe: "Wollen Sie denn wieder eine Mauer bauen?"
Spannend war das. Habe ich nie vergessen.

 Saudade (02.10.25, 17:11)
"Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an!" - Julius Cäsar, Shakespeare.

Stell dir vor, Cäsar in Toga: "Und nun folgt eine Power Point - Präsentation über ..."
😂😂😂

 Graeculus meinte dazu am 03.10.25 um 14:28:
Ernsthaft kann ich es mir nicht vorstellen, nur als Sketch von Monty Python. Da wäre es ein Lacher.

 Jack (03.10.25, 01:35)
Von der Antike bis zur Spätmoderne war die Macht der Rede an die Empfänglichkeit der Zuhörer für Rhetorik und Dialektik geknüpft.

In der Postmoderne ist Rede Bullshit und Emoticon, aber ihre Macht ist eher noch größer geworden. Redekunst, die ausschließlich das Limbische System des Zuhörers anspricht, ist eine emotionale Massenvernichtungswaffe.

 Graeculus meinte dazu am 03.10.25 um 14:32:
Es stimmt, eine gute Rede setzt entsprechende Zuhörer voraus. Nämlich solche, die Argumente verstehen und darauf eingehen können.
Ein Kompliment an die Athener und Römer, die Demosthenes und Cicero zugehört haben.
Der Korrektheit halber muß man allerdings hinzufügen, daß es schon damals auch das Phänomen des Demagogen - ein altgriechischer Begriff! - gegeben hat ... und damit den Appell an das limbische System der Zuhörer.
Das gab es auch - heute scheint es fast nur noch dies zu geben.
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