Ohne Hände. Ohne Augen. Ohne Schuld.
Satire zum Thema Anpassung
von Saira
8:00 Uhr – Arbeitsbeginn
Im Haus von Krawall & Partner arbeitete man mit Hingabe, mit Haltung und mit Herz, das im Takt der Schreibmaschinen schlug. Neonlicht bleichte die Haut. Tinte sickerte in die Finger. Räume, so makellos gefügt, dass kein Gedanke mehr wagte, aus dem Takt zu fallen.
Fräulein Unschuld glitt durch die Reihen, gleichmäßig wie ein Uhrwerk auf hohen Absätzen. Ihr Lächeln – berechnet. Ihr Schritt – kontrolliert. Ihr Stift – ein Protokollmesser.
Herr Rotkopf, der Buchhalter, glühte. Der Blutdruck arbeitete zuverlässiger als er. Sein Kopf – ein roter Planet, kurz vor der Explosion.
Und von oben, unsichtbar, die Stimme von Herrn Krawall:
„Rotkopf! Wo bleiben die Zahlen? Haben Sie sie wieder verloren – wie Ihr Rückgrat, Ihr Blut, Ihre Würde?!“
Die Worte prallten gegen Wände, tropften von den Decken, sickerten in die Akten.
„Herr Direktor, ich … die Listen …“
„Sparen Sie sich die Luft! Die Firma erstickt ohnehin an Ihnen!“
Fräulein Unschuld lächelte, ein Lächeln aus Papier.
Sie schrieb leise:
Er erstickt bald an sich selbst.
Unten, in der Tiefe, summte Herr Taub, der Hausmeister, ein Lied ohne Töne. Er hörte nichts. Er verstand alles.
10:00 Uhr – Sitzung
Der Konferenzraum war ein Aquarium. Darin schwammen Worte, Titel, Tabellen.
Hüpfer sprach, den Rauch seiner Zigarette wie einen Gedanken in der Luft haltend:
„Die Belegschaft wird träge. Man müsste sie antreiben – mit glänzenden Versprechen, mit dem Duft von Belohnung, mit einer Karotte, die niemals näherkommt.“
Frau Delegation nickte, lächelte ihr dünnes Lächeln.
„Ich schicke die Aufgaben einfach weiter nach unten. Dort wachsen sie. Und wenn sie groß genug sind, ernten wir sie hier oben.“
Schössling drehte eine Zigarre zwischen den Fingern, als prüfe er deren Geduld.
„Fräulein Unschuld“, sagte er, „tritt auf, als wüsste sie, dass man ihr nachsieht. Wenn sie sich über einen Schreibtisch beugt, vergisst man leicht, was man eigentlich sagen wollte.“
Ein Rascheln. Ein kurzes Luftholen. Rauch hing in der Luft wie Scham.
Hüpfer grinste.
„Sie sollten lernen, Schössling, wo man investiert – und wo man bezahlt.“
Brillant hob den Blick, die Stimme ruhig, doch mit der Härte eines gläsernen Messers:
„Und wissen Sie noch, worin der Unterschied liegt?“
Niemand antwortete. Vielleicht, weil keiner ihn verstand … oder, weil er recht hatte. Das Licht flackerte. Die Schatten an der Wand bewegten sich weiter, auch als die Körper schon stillstanden.
12:30 Uhr – Zwischenfall in der Besenkammer
Die Kammer roch nach Staub und alter Seife. Zwischen Kartons und Putzmitteln stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem Aktenstapel lagen – ordentlich beschriftet, so, wie nur sie es tat.
Fräulein Unschuld hatte die Tür angelehnt. Sie notierte Zahlen, hörte die Stimmen aus dem Flur, wartete. Nicht auf jemand Bestimmten, sondern auf die Gelegenheit, etwas zu beobachten, was sich sonst hinter Türen verbarg.
Schössling trat ein, langsam, sicher. Sein Grinsen breitete sich aus.
„Fräulein Unschuld“, sagte er, „ich hätte da ein paar Punkte zur Abstimmung – und vielleicht einen Vorschlag, der nicht ins Protokoll gehört.“
Sie hob die Augen, kühl, wach, fast amüsiert.
„Ein Vorschlag? In der Besenkammer?“
Er trat näher. Sein Atem war nikotingeschwängert, sein Ton fast vertraulich.
„Hier wird doch am gründlichsten geputzt. Und was sauber bleibt, entscheidet man zu zweit.“
Sie lächelte kaum merklich.
„Sie überschätzen Ihre Stellung, Herr Schössling.“
Er neigte sich leicht vor, die Stimme glatt, süffisant.
„Ach, Fräulein Unschuld – ich überschätze mich nie. Ich nutze nur, was sich anbietet.“
Dann Stille. Eine Bewegung. Ein Geräusch, das wie Stoff klang, dann so etwas wie ein Schlag. Fräulein Unschuld sagte:
„Sie sind nicht der Erste, der es hier versucht hat. Aber der Raum merkt sich Gesichter.“
Draußen rumpelte Herr Taub mit seinem Wagen vorbei.
Er pfiff ein Lied, das niemand kannte, und das Gebäude atmete einmal schwer aus.
17:00 Uhr – Entlassung
Das Büro war heller geworden. Zu hell. Man konnte sich selbst darin nicht mehr sehen.
Krawall stand vor den Tischen. Sein Gesicht glänzte wie poliertes Blech.
„Es wird gekürzt! Gnadenlos! Nur die Besten bleiben!“
Frau Delegation nickte:
„Ich habe die anderen schon notiert.“
Rotkopf hob den Kopf, doch seine Stimme klang wie ein Echo aus einem fremden Raum.
„Wen meinen Sie mit ‚anderen‘?“
Brillant antwortete, ohne aufzusehen:
„Die, die zu oft fragen. Die, die zu wenig wissen. Oder die, die zu viel wissen.“
Ein Blick. Ein stilles Einverständnis.
Dann fiel Rotkopfs Kopf auf die Tastatur. Die Maschine schrieb weiter:
kkkkkkkkkkkkkkkkkkk Ein Ton. Ein Herzschlag. Eine Linie.
„Räumen Sie das weg“, sagte Krawall und ging. Sein Schatten blieb zurück.
23:00 Uhr – Nachtschicht
Die Firma atmete. Langsam. Regelmäßig. Wie ein Tier, das satt geworden ist.
Brillant saß im Sessel des Direktors. Das Licht summte über ihm, nicht hell, nicht dunkel, sondern vollkommen gleichgültig. Auf dem Tisch: zwei Gläser, so klar, dass man nicht wusste, welches leer und welches voll war. Darin spiegelte sich das Licht, zweimal, einmal makellos, einmal leicht verzogen. Zwischen ihnen lag der Vertrag, gerade, sauber, mit einer Unterschrift, die noch feucht schimmerte – wie eine Narbe, die sich selbst versiegelt.
Unschuld trat ein. Sie stand im Türrahmen, als hätte das Licht sie gezeichnet und gleich darauf gelöscht.
„Na also“, sagte sie. „Jetzt sind Sie der Direktor.“
„Ich war es schon lange“, sagte Brillant. „Nur das Schild fehlte.“
„Und die anderen?“
„Sie waren effizient“, sagte er, die Stimme ruhig, beinahe stolz. „Im Sterben wie im Leben.“
Er nahm eines der Gläser und reichte es ihr. Für einen Moment spiegelten sie sich gegenseitig. Zwei Gesichter. Zwei Gläser. Zwei Spiegelungen – eine Bewegung.
Sie trank. Lächelte. Starb.
Brillant stand nicht auf. Er sah auf sie hinab, so, wie man auf ein erledigtes Schriftstück blickt. Dann schob er den Vertrag beiseite, legte ihn über ihr Gesicht und sagte:
„Das war kein Sekt für Sekretärinnen.“
Er blieb sitzen. Die Feder in seiner Hand bewegte sich weiter, automatisch, präzise. Seine Finger zuckten, doch nicht aus Gefühl, sondern aus Rhythmus. Die Feder kratzte, tropfte, klang wie ein Uhrwerk. Oder wie ein Herz, das sich an Tinte erinnert. Das Licht spiegelte sich noch einmal in den beiden Gläsern, als wollte es ein letztes Mal prüfen, ob jemand übrig war.
Unten im Keller sang Herr Taub ein weiteres, unbekanntes Lied. Er war der Vorletzte, weil er nie gehört hatte, was die anderen sagten. Er hatte nicht gelobt, nicht gelogen, nicht gefragt. Er hatte nur geputzt. Genau das war es, was ihn am Leben hielt. Sein Lied hallte durch die Rohre, bis es klang wie Strom.
Dann fiel das Licht aus.
Und die Firma arbeitete weiter. Mit Brillant am Schreibtisch, mit Taub im Keller.
Ohne Hände.
Ohne Augen.
Ohne Schuld.
©Sigrun Al-Badri/ 2025