In Dublin erkennt man den Winter nicht am Schnee.
Man erkennt ihn daran, dass Männer anfangen, sich freiwillig als Weihnachtsmann zu verkleiden.
Sie stehen in Bussen.
Sie blockieren Gehwege.
Sie warten an Zebrastreifen, obwohl kein Verkehr kommt.
An diesem Abend trafen sie sich. Freiwillig.
Der Pub hatte innerlich wie äußerlich das Aussehen eines Ortes, in dem Tradition noch etwas bedeutete: kuschelig, muffig, zuverlässig unbeeindruckt von der Gegenwart. Über der Tür hing 1843 in Gold. Man fühlte sich sofort eingeladen.
Drinnen war es laut, eng und warm auf die unangenehme Art.
Seán O’Santa kam aus Galway. Mit dem Bus. Mit einer Liste seiner Symptome. Sauber gefaltet. Hoffnungslos.
Er setzte sich. Zählte.
Zweiundsechzig.
Zweiundsechzig.
Zu regelmäßig, dachte er.
„Guinness“, sagte er. „Nicht kalt.“
„Warum?“, fragte die Bedienung.
„Weil mein Körper das nicht mag.“
Patrick setzte sich neben ihn.
„Du sitzt auf meinem Platz.“
„Das ist ein Hocker.“
„Ich saß immer da.“
„Na und?“
Patrick starrte ihn an. „Ich werde sterben.“
„Ja“, sagte Seán.
„Nicht heute.“
„Schade.“
„Plötzlich.“
„Hört sich gut an.“
Liam tauchte auf. Roter Kopf. Schiefer Bart.
„Alkohol ist Lebensfreude“, lallte er. „Ich habe heute drei oder sieben Whiskeys überlebt.“
„Man hört es“, sagte Patrick.
„Mein Arzt sagt, ich sei erstaunlich gesund.“
„Ihr Arzt war wohl betrunken.“
„Natürlich.“
Aidan räusperte sich.
„Mein Rentier hat draußen auf ein Polizeiauto gekotet.“
Niemand reagierte.
„Das ist schlecht“, sagte Seán schließlich.
„Ich bin neu“, sagte Aidan.
„Das merkt man“, sagte Patrick. „Ein Profi hätte das Tier auf der Wiese geparkt.“
Die Wirtin trat dazu.
„Wenn ihr weiter über Krankheiten, Tod oder Scheiße redet“, sagte sie, „fliegt ihr.“
Seán hob den Finger.
„Arschloch“, sagte sie.
Sie tranken schneller.
Liam stand auf, um sich wieder zu setzen, und brauchte dafür beide Hände.
Patrick hatte den Eindruck, der Boden sei minimal schief.
Aidan hielt sein Glas fest, als könne es weglaufen.
Niemand sagte etwas.
Es schien ihnen vernünftig.
„Ich bin allergisch gegen Kalender“, sagte Patrick.
„Warum?“, fragte Liam.
„Weil sie so tun, als käme noch was.“
Seán hielt sich die Brust.
Patrick verdrehte die Augen.
Pause.
Gelächter. Kurz. Gemein.
Draußen kotzte jetzt das Rentier auf das Auto.
„Irland“, sagte Liam. „Das einzige Land, in dem selbst der Weihnachtsmann nichts im Griff hat.“
„Ich gehe morgen zum Arzt“, sagte Seán.
„Natürlich“, sagte Patrick. „Und stirbst auf dem Weg.“
„Hoffentlich nicht im Wartezimmer.“
Der Pub hatte entschieden, dass vier kaputte Männer in Kostümen entschieden zu viele waren.
„Zu viel drin?“, fragte Patrick.
„Zu wenig Hirn“, sagte die Wirtin.
Draußen war Dublin nass. Nicht traurig. Nur nass.
Seán trat auf den Bordstein und verfehlte ihn knapp.
Er entschuldigte sich bei der Straße.
Aidan sah sich um. „Das Rentier fehlt.“
„Es ist erwachsen“, sagte Patrick. „Es wird gegangen sein.“
„Rentiere gehen nicht“, sagte Seán. „Sie ertragen.“
Die Wirtin zeigte auf die Straße.
Das Rentier stand noch immer vor dem Polizeiwagen und übergab sich. Der Polizist sah aus, als hätte er sich das anders vorgestellt.
„Es hat …“, begann Aidan.
„Ja“, sagte der Polizist. „Eine Sauerei.“
Das Rentier nieste.
„Infekt“, sagte Seán.
Der Polizist seufzte. „Nehmen Sie es mit. Ich tue so, als hätte ich nichts gesehen.“
„Danke! Frohe Weihnachten“, sagte Patrick.
Aidan führte das Rentier weg.
Es folgte sofort.
„Geht“, sagte die Wirtin. „Ihr seid keine Mythen. Ihr seid Männer mit Filz.“
Sie gingen.
Dublin blieb.
Es regnete.
Am nächsten Tag würde niemand sagen, es sei etwas Besonderes passiert.
©Sigrun Al-Badri/ 2025