Kurz nach drei bei den Humpelmeiers

Groteske zum Thema Weihnachten

von  Saira

Das Haus war noch wach, obwohl niemand mehr wach sein wollte. Die Stille hatte Risse bekommen und ließ Stimmen durch.

 

Aus dem Wohnzimmer drang Gelächter. Gedämpft. Dann ein Auflachen, das zu spät kam, um noch harmlos zu sein.

 

Albrecht richtete sich auf. Der Boden gab nach, nur ein wenig. Der Türrahmen hielt ihn. Sein Atem ging flach. Etwas drängte von innen, beharrlich, ohne Namen. Nicht Schuld. Nicht Angst. Eher ein Nachlassen.

 

Im Flur brannte noch eine Lampe. Halbherzig. Schatten verschoben sich, als hörten sie zu. Stimmen lagen darin. Zu nah, um zufällig zu sein.

 

„Albrecht glaubt wirklich, wir merken das nicht“, sagte Hermine.

 

Ein Glas klirrte.

 

„Immer so sauber“, fuhr sie fort. „So vorsichtig. Als hätte er Angst, sich selbst zu berühren.“

Ein Schnauben.

 

„Und dann schaut er einen an, als müsste man ihm danken. Dafür, dass er nichts tut.“

 

Albrecht blieb stehen. Der Türrahmen lag kalt an seiner Schulter. Er hörte zu. Nicht freiwillig. Aber vollständig.

 

„Weißt du, was das ist?“, sagte sie. „Feigheit. Fromm verpackt.“

 

Ein leises Lachen. Zu nah.

 

„Setz dich“, sagte eine andere Stimme.

 

Eine Hand an seinem Arm. Warm. Besitzergreifend.

 

Er wollte etwas sagen, etwas Richtiges, etwas, das standhielt. Stattdessen löste sich ein Laut. Feucht. Unkontrolliert. Ein Gesicht verzog sich. Ein kurzes Auflachen, das sofort wieder verschwand.

 

„Du solltest liegen.“

 

Der Tonfall war ruhig. Zuständig. Endgültig.

 

Der Boden kam näher. Nicht abrupt. Eher entgegenkommend.

 

„Es reicht jetzt.“

 

Die Worte klangen erleichtert.

Später setzte das Schnarchen ein. Unregelmäßig. Noch einmal. Dann brach es ab.

Im Flur tickte die Uhr weiter.


Zu laut für ein Haus, das schlafen wollte. 

˜ ˜ ˜

Am nächsten Morgen saß die Familie am Frühstückstisch. Onkel Albrecht fehlte noch.

Der große Wohn- und Essbereich roch noch nach Heiligabend: nach kaltem Alkohol, abgestandenem Atem, etwas Süßlichem, das hier nichts zu suchen hatte.

 

Marianne stand am Herd. Dieselbe Bluse wie am Abend zuvor, nur glatter gezogen. Das Make-up saß zu ordentlich für diese Stunde, nicht verschmiert, nicht müde, wie eine Schicht, die hielt.

 

Rolf saß bereits. Sein Gesicht gehörte zu einem Mann, der nicht geschlafen, sondern gezählt hatte. Stunden. Geräusche. Möglichkeiten. Das Hemd zerknittert, die Haare eigensinnig abstehend: Spuren einer Nacht ohne Ergebnis. Der Kaffee vor ihm war schwarz und unangetastet.

 

Oma Erna kam langsam herein, den Rücken steif, das Gesicht aufgedunsen vom Abend. Sie setzte sich, zog die Cognacflasche aus der Schrankbar und schenkte sich ein Glas ein, ohne hinzusehen. Nach kurzem Zögern goss sie einen guten Schluck in den heißen Kaffee, der bereits vor ihr stand. Die Oberfläche zog feine, hastige Wellen und beruhigte sich nicht.

„Der wärmt jetzt besser“, sagte sie und blinzelte. Die Augen glasig, aber wach. Wach genug.

Der Cognac tat, was er immer tat. Er legte sich darunter. Still. Verlässlich. Als hätte er Zeit.

Tante Hermine saß bereits am Tisch. Schwarz gekleidet wie immer, doch die Bluse ließ heute mehr frei. Das Medaillon lag schwer auf dem Stoff, der ihre Brust zusammenhielt, als müsse er etwas in Form zwingen.

 

„Albrecht schläft wohl noch“, sagte Marianne.


Der Satz kam schnell. Zu schnell.

 

Rolf reagierte nicht.

 

„Der schläft sonst nie lange“, sagte Erna und gab noch einen Schuss Cognac in die Tasse.

Unter dem Tisch lag Balthasar. Er hob kurz den Kopf, sah sich um und legte ihn wieder ab. Der Schwanz klopfte einmal gegen Hermines Stuhl, dann blieb er ruhig. Er kannte die Regeln.

Kevin lehnte im Türrahmen, das Handy locker in der Hand. Die Nacht hatte rote Ränder unter seine Augen gelegt, die Haut wirkte fahl.


Chantal saß barfuß auf dem Stuhl, die Knie angezogen, das Haar wirr. Sie pulte am Marmeladenglas, Streifen um Streifen, als ließe sich etwas freilegen.

 

„Ich wecke ihn“, sagte Marianne.

 

Diesmal war es keine Einladung.

 

Der Flur nahm sie auf. Schritte. Eine Tür.


Dann ein Laut, der sich weigerte, einer zu sein. Etwas zwischen Einatmen und Aufgeben.

Als sie zurückkam, war ihr Gesicht neu sortiert. Nicht erschüttert. Nur ausgedünnt.

„Er ist tot“, sagte sie und setzte sich.

 

Der Satz stand im Raum wie ein Möbelstück, das nie bestellt worden war.

 

Rolf fuhr sich über das Gesicht. „Tot“, wiederholte er leise, als prüfe er, ob das Wort trug.

Erna nahm einen Schluck. „Auf dein Wohl, Albrecht.“

 

Hermine erhob sich. Der Stuhl schrammte hart über den Boden. Sie blieb stehen, beide Hände auf der Tischplatte, als müsse sie sich festhalten.

 

„Er war müde“, sagte sie. „Sehr müde.“

 

„Er war betrunken“, sagte Erna.

 

Kevin schaltete das Handy ein und legte es zwischen Butter und Brot.


Chantal sah kurz hin, dann auf ihre Hände

.

„Er hat geschnarcht“, sagte sie. „Und dann war es weg.“

 

Balthasar hob den Kopf. Ein leises Winseln, zögerlich. Dann kroch er näher an Rolfs Bein.

Marianne begann aufzuräumen. Teller, Besteck, das Rührei, zu lange gerührt. Es sah aus wie etwas, das man besser verschwinden ließ.

 

˜ ˜ ˜

Zwei Polizisten traten ein. Einer mit einem Blick, der noch hängen blieb, der andere mit einem, der längst weiterging.

 

„Wo liegt er?“

 

„Im Gästezimmer“, sagte Marianne. „Er war erschöpft.“

 

Im Flur öffnete sich eine Tür. Funk. Ein knappes Nicken.

 

Als die Trage vorbeigeschoben wurde, folgte ihr Hermines Blick. Das Laken war weiß. Zu weiß. Ihre Finger schlossen sich um das Medaillon. Der Hund zog den Kopf ein.

 

„Gott prüft uns“, murmelte sie.

 

Erna lachte trocken. „Der prüft schon lange nicht mehr.“

 

Die Fragen kamen ruhig, sachlich. Die Antworten glitten darüber hinweg, glatt genug, um nichts festzuhalten.

 

Als draußen der Wagen startete, setzte sich Rolf wieder. Seine Stimme war rau.

„Ich wollte Schriftsteller werden“, sagte er.

 

Marianne betrachtete den Tisch: Krümel, Kaffeeränder, den dünnen Cognacfilm in Ernas Tasse.

 

„Heute Abend essen wir Reste“, sagte sie. „Es wäre schade drum.“

 

Balthasar seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten.

Der Morgen ging weiter. 

˜ ˜ ˜

Am Nachmittag war der Tisch abgeräumt. Krümel entfernt, Tassen gespült. Der Cognac stand wieder im Schrank.

 

Marianne faltete Servietten. Sorgfältig. Kante auf Kante.


Rolf saß am Fenster und sah auf die Straße. Er sagte nichts. Er formulierte im Stillen.

Erna schlief im Sessel. Der Mund offen, die Hände auf dem Bauch.

 

Hermine stand im Gästezimmer. Das Bett war frisch bezogen.


Das Medaillon lag noch immer zwischen ihren Brüsten eingeklemmt. Sie strich das Laken glatt, einmal, zweimal, als ließe sich etwas einebnen.

 

Dann blieb ihre Hand liegen.

 

Langsam griff sie darunter, zwischen Matratze und Lattenrost, als wüsste sie genau, wo.

Ihre Finger zogen etwas hervor. Klein. Unspektakulär.

 

Ein Glas.

Das Glas vom Vorabend.

Noch mit einem Fingerabdruck am Rand.

 

Hermine betrachtete es einen Moment, drehte es leicht, bis das Licht darinstand.

Dann stellte sie es zurück auf den Nachttisch. Genau dorthin, wo es hingehörte.

 

Im Flur saß Kevin auf der Treppe und sah sich ein Video an. Ohne Ton.

 

Chantal lag neben dem Hund auf dem Teppich. Balthasar atmete ruhig.

 

„Was machen wir mit seinen Sachen?“, fragte Rolf schließlich.

 

Marianne überlegte kurz.

„Wir lassen sie erst mal“, sagte sie. „Man soll nichts überstürzen.“

 

Draußen ging jemand vorbei. Ein gewöhnliches Geräusch. Ein gewöhnlicher Tag.

 

„Nächstes Jahr“, sagte Marianne, mehr zu sich selbst als zu den anderen, „machen wir es ruhiger.“

 

Hermine schloss leise die Tür zum Gästezimmer.

 

Der Satz blieb stehen.

Er passte sich an.

Im Flur tickte die Uhr.

Ganz normal.





©Sigrun Al-Badri/ 2025




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Kommentare zu diesem Text


 Didi.Costaire (16.12.25, 15:56)
Hallo Sigi,


Der Boden kam näher. Nicht abrupt. Eher entgegenkommend.

So schnell kann es also gehen und so elegant zugleich. Das muss man Albrecht lassen.

Liebe Grüße,
Dirk
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