Genie und Wahnsinn IV: Vincent van Gogh (1853-1890)

Essay zum Thema Wahnsinn

von  JoBo72

Vincent van Gogh ist der vielleicht bekannteste Maler der Welt. Seine Ölgemälde erzielen bei Auktionen Stückpreise jenseits der 50-Millionen-Dollar-Grenze, sein Museum in Amsterdam ist längst zur Pilgerstätte für Kunstliebhaber aus der ganzen Welt geworden. Das Kröller-Müller Museum in Otterlo bei Arnheim mit immerhin 87 „echten van Goghs“ steht dem an Popularität kaum nach.

Der Ruhm kam posthum; zu Lebzeiten war van Gogh arm und ein gesellschaftlicher Außenseiter. Der Künstler wurde nur von einigen Fachkollegen anerkannt, die Galleristen und Kunstliebhaber ignorierten den Holländer beharrlich, er verkaufte selbst nur ein einziges Bild zu einem Spottpreis an seinen Bruder Theo. Damit teilte van Gogh das Schicksal vieler Avantgardisten in Kunst und Wissenschaft: Von den Zeitgenossen nicht verstanden zu werden. Sie erkannten die Tragweite seines Schaffens nicht.

1888, zwei Jahre vor seinem Suizid, arbeitet Vincent van Gogh in einem wahren Schaffensrausch. Am 23. Oktober kommt sein Kollege Paul Gauguin in Arles an. Er arbeitet und lebt mit Vincent van Gogh im „Gelben Haus“. Die Beziehung der beiden Künstler verschlechtert sich, nachdem sie zwei Monate zusammenlebten. Gauguin zufolge geht Vincent am 23. Dezember mit einem Rasiermesser auf ihn los. Gauguin stürzt aus dem Haus und übernachtet in einem Gasthof.

Ingo Walther schildert in seiner 1989 erschienenen Biographie wie Vincent van Gogh in der Nacht einen Anfall geistiger Umnachtung erleidet und sich den unteren Teil des linken Ohres abschneidet. Er wickelt es in Zeitungspapier und bringt es der Prostituierten Rachel als Geschenk ins Bordell. Die Polizei findet ihn am frühen Morgen verletzt im Bett und liefert ihn ins Krankenhaus ein. 1889 ging er nach Saint-Rémy-de-Provence Arles in die Heilanstalt, wo Gemälde von ekstatischer Ausdruckskraft entstanden, u. a. „Sternenhimmel“. Ein Jahr danach zieht er nach Auvers und nimmt sich nach einer weiteren intensiven Arbeitsperiode das Leben.

Die Erkrankung Vincent van Goghs ist Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Als Ursache seines Leidens wurden unterschiedliche Erklärungen wie akute intermittierende Porphyrie, Epilepsie und Schizophrenie vorgeschlagen. W. K. Strik von der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Universität Würzburg schreibt dazu in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt vom Mai 1997: „Viele der diagnostischen Hypothesen beruhen auf einer einseitigen oder unvollständigen Betrachtung des Lebenslaufes und der Hinweise auf das subjektive Erleben aus den Briefen van Goghs an seinen Bruder. Karl Leonhard zeigte in einer Analyse des Lebenslaufes, daß sowohl der Verlauf als auch die Akutsymptomatik mit der Diagnose der von ihm beschriebenen zykloiden Angst-Glücks-Psychose vereinbar sind.“ Neuere Forschungen (U. Kraft in Gehirn und Geist, Nr. 5, 2004) legen nahe, dass sich hinter der symptomatisch in Erscheinung tretenden Psychose eine lavierte Temporallappenepilepsie als Ursache verbirgt. Krampfanfälle sind hierbei nur schwach ausgeprägt, andere psychische Auffälligkeiten dafür umso mehr. Wenn die unkontrollierten Nervenentladungen den Temporallappen betreffen, schwanken die Betroffenen zwischen Euphorie und Depression. Vincents Bruder Theo beschreibt diese Stimmungsschwankungen eindrücklich: „Es ist, als wären da zwei Menschen: der eine hochbegabt, gebildet und feinsinnig, der andere egoistisch und hartherzig.“. Genial und impulsiv-psychotisch – der „echte van Gogh“ hatte zwei Gesichter.
Diese Janusköpfigkeit bipolarer Labilität ist häufig verbunden mit einer ausgeprägten Emotionalität, mit Angstzuständen, Halluzinationen und Verfolgungswahn. Auch das passt auf Vincent van Gogh.

So unsicher die Fachwelt bei der Diagnose, so sicher ist, dass sich die schweren psychischen Leiden auf van Goghs Bilder auswirkten, was sich z. B. an der Wahl kräftig leuchtender Farben und der expressiven Pinselführung erkennen lässt. Für van Gogh war immer die Wahrhaftigkeit in der Erfassung allen Lebens wichtig. So ließ er immer nur einen Maßstab gelten: die Wirklichkeit. Er gab sich in seiner Malerei völlig der Natur hin, und so wurde ihm immer mehr „alle Wirklichkeit zugleich Symbol“. Ein zentrales Motiv war für ihn die immergrünen Zypresse, lebendig, feurig und lodernd, ein Ausdruck tiefster Erregtheit.

So schreibt van Gogh: „Die Zypressen beschäftigen mich dauernd. Es wundert mich, daß man sie noch nicht gemalt hat, wie ich sie sehe. In den Linien und Proportionen so schön wie ein ägyptischer Obelisk. Und das Grün ist so ein ganz besonders feiner Ton. Es ist der schwarze Fleck in einer sonnenbeschienenen Landschaft, aber es ist einer der interessantesten schwarzen Töne, doch ich kann mir keinen denken, der schwieriger zu treffen wäre.“


Anmerkung von JoBo72:

Der Artikel basiert auf:
Josef Bordat: „Genial und impulsiv-psychotisch. Vincent van Gogh (1853-1890)“, in: Perspektive Eigensinn. Zeitung der Interessenvertretung Psychiatrie-Erfahrener im Kreis Kleve e.V., Nr. 6 (Januar-Juli 2006), S. 10-12.

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Kommentare zu diesem Text


 SimpleSteffi (10.02.08)
Eine wirklich gute, da interessante und kurzweilig informierende Serie. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Liebe Grüße!
Steffi

 JoBo72 meinte dazu am 11.02.08:
Liebe Steffi, vielen Dank für Dein Interesse! Es kommen noch einige bedeutende Persönlichkeiten... geplant sind 24 Folgen. LG, Josef
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