Auf dem Weg ins Wohnzimmer stieß ich mich ungeschickt am Tührrahmen, dann gleich nochmal am Stuhl. Ich hatte gerade mein erstes Buch beendet und war schnell ins Arbeitszimmer geeilt, um das Manuskript zu holen, das ich, ordentlich wie ich bin, akkurat auf meinem Schreibtisch aus Nussbaumholz abgelegt hatte. Der Titel des Buches war: "1978", mein Geburtsjahr. Ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden, schließlich ging es in dem Buch ganz klar um mich, das Kind, das zu einem jungen Erwachsenen heranwuchs, um schließlich immer älter zu werden; dem Alkohol, den ich lange nicht mehr so genüsslich trank wie früher, und den Frauen zu verfallen, obschon es meistens Prostituierte waren. Meistens oder so gut wie immer.
Hoffnungslos war ich daran gebunden, mir mein eigenes Schicksal selbst aufzuerlegen und so hatte ich den einzigen Freund, den ich je besaß, zu mir nach Hause eingeladen, der nun in erwartungsvoller Haltung, weil er sich eine Tasse Schwarztee mit Milch und ohne Zucker sowie eine Ladung Kekse von mir versprach, auf meiner extravaganten Bambuscouch ruhte.
"Beinahe wie ein volltrunkener Bettler, der sich einen Tropfen Motoröl verspricht, wenn er nur lange genug an Tankstellen herumlungert."
Mein verlegenes Grinsen war unverkennbar und Erik, so hieß mein Freund, erkannte es sofort: "Willst du mir wieder was verkaufen? Vielleicht Briefmarken oder Münzen?" "Nein, nein.", sprudelte ich und wehrte ganz erschrocken den Vorwurf mit meinen goldbehangenen Händen - ich stand auf Ringe aus Gold - ab. "Gut.", sagte Erik. "Aber..", fing ich an. "Aber da ist doch noch was.", und ich zog völlig abrupt das Bündel Blätter - 239 bedruckte Seiten - hinter meinem verschwitzten Rücken hervor. "Hier hast du was, bitte, bitte lies dir das mal durch, du wirst stauen, es wird dir gefallen, ich versprech's!", bettelte ich. Wollte mich gerade hinknien, als der weltbeste Freund seine Arme ausstreckte, einen sanften Seufzer ausstieß und das Manuskript entgegennahm.
Als ich drei Stunden später wiederkam, fand ich Erik noch immer auf meiner exklusiven Bambuscouch vor und stellte fest, dass er eingeschlafen war. Ich, der treusorgende Freund, rüttelte ihn augenblicklich wach und stellte ihm die entscheidende Frage, die mir auf der Zunge brannte wie sonst nur heißes Wachs: "Wie findest du mein Buch, sag schon?!" Erik sah sich benommen in meiner Wohnung um, als hätte er sich im Schlaf träumend erhofft, wenigstens bei sich zu Hause oder vielleicht auch bei einer schönen Frau zu sein, aber mitnichten bei mir, dem Bettelkind, dem Schreihals, dem Widersacher aus dem Buch. Aber ich wollte es wissen, wenngleich ich dafür unsere Freundschaft riskieren musste. Malte mir schon aus, wie ich ihn festnageln würde, mit einem schwarzen Küchenmesser in der Rechten und einem Asthmaspray - getarnt als Pfefferspray - in der Linken. Aber das war gar nicht nötig, denn mein Freund war kulant und blinzelte jetzt gerade mit den Augen: "Also, hör zu, ich hab das alles wirklich gelesen und hatte auch kaum was auszusetzen. Als hätte ich Ahnung von sowas, schlachte ich doch sonst nur die Ochsen aus dem Umkreis, aber ich hab das tatsächlich gerne gelesen." Ich jubelte und spreizte meine Finger und Zehen, die in meinen Schuhen versteckt waren. "Danke, das vergess ich dir nie-nie-niemals, Erik." Erik runzelte die Stirn und stellte die alles entscheidende Frage: "Wem wirst du's widmen, dein "1978", sag?" Meine Augen suchten hastig seinen Mund und dann doch wieder den Boden: "Dir, dir werde ich mein "1978" widmen; dir und noch jemandem." "Oh, wem denn noch?", bohrte Erik. "Nun, Christian Kracht, weil er mir noch heute das Gefühl gibt, unsterblich zu sein. Habe mich entschieden, das Buch nur den Lebenden zu widmen. Das erspart mir so einiges. Habe schon lange niemanden mehr so toll gefunden wie Henry Miller zum Beispiel, obwohl das natürlich auch variiert. Und dich finde ich toll und eben den Christian Kracht; auch mich, aber ich bin ja nicht so wahnsinnig arrogant, das weißt du! Also, freust du dich?"
Erik strahlte mich an; er glänzte und schillerte herrlich, die pralle Sonne mit ihren dicken Backen war nichts dagegen: "Klar, dear, freu ich mich. Habe mich schon lange nicht mehr so gefreut. Das schlägt dem Fass den Boden aus, im Positiven, wenn das geht. Was wollen wir jetzt machen?"
Da musste ich gar nicht überlegen und presste ungeduldig meine Antwortet heraus, gefolgt von einem zirpenden Pfeifen, das ich durch die Zähne stieß wie lauter kleine Pfeile: "Ich will dich jetzt sofort auf ein Vanilleeis einladen. Drei Kugeln! Jetzt SOFORT, Erik!"
Das war nicht Teil meines Plans. Es ist nur so, dass Vanilleeis mich an alles erinnert, was ich so gerne leiden kann wie sonst nur den Erik oder Christian Kracht - all die Toten ausgenommen. Vanilleeis und Brot und Haferflocken, vielleicht noch Bier. Wenn ich etwas essen wollte, dann eindeutig Vanilleeis und auch, wenn ich wusste, dass mein Buch kein Longseller (auch kein Best- und Topseller) werden würde. Dafür war es nämlich zu schmucklos, ohne Firlefanz. Es beschrieb mich: Sitzend am Mittagstisch oder auch nicht. Jedenfalls beschrieb es nur mich, ohne eine Ausnahme oder Pause zu machen. Die Pausen wollte ich nicht gewähren, keine Intervalle, nur das grenzenlose Pochen in den Schläfen, wenn man lesen musste, wie ich mir in die Hosen machte, weil ich Schiss davor hatte, ein Fahrrad in den Fluss zu steuern oder weil ich zu stolz war, in der Schule mit jemandem mein Pausenbrot zu teilen. Ganz zu schweigen davon, wie angewidert ich war, als ich darum gebeten wurde, die heilige Wasserflasche mit jemandem zu teilen. Nie wollte ich Münder berühren oder auch nur in ihre Nähe kommen. Das war dringlich, genauso dringlich wie die Bitte, niemals einer Arbeit nachzugehen.
Aber siehe da, nun stand ich hier: Nebenberufliche Tätigkeit "Autor", das Hemd halb aus der Hose hängend, sonst im Bergwerk, nein "Lüge", im Krankenhaus schuftend, mich darüber mokierend, dass zu wenig Urin in den Bechern war; zu wenig für die Urologie, okay für's Labor, verdammte Scheiße. Ich war in der Urologie. Das wussten die Leute, also warum taten sie nicht, was ich wollte! Ich hasste es.
Jetzt also ein Vanilleeis. Was Morgen? Ich wusste es nicht und mein Freund war schon aus der Tür. Er konnte nie warten, so wie ich nie warten wollte. Ein entscheidender Unterschied, will ich meinen. Zwischen "nicht warten können" und "nicht warten wollen". Könnte ich warten, würde ich es nämlich auch nicht wollen. Könnte er warten, würde er warten wollen. Doch weil wir immer wissen, wohin uns unsere Wege führen, treffen wir uns einfach in spätestens fünf Minuten mit einem Vanilleeis in der Hand vor der Eisdiele.
Hätte schlimmer kommen können - kann immer schlimmer kommen. Wir sind gleichzeitig hier und dort. Spielt keine Rolle, macht keinen Unterschied. Was zählt, sind die Herzen, die weder am einen noch am anderen Fleck absonderlich glückselig kontraktieren.
Lasst uns erst mal ein Eis essen und dann weitersehen: Dann zum schwarzen Küchenmesser greifen, dann mit dem getarnten Pfefferspray hantieren, dann die Bücher in der Schublade ablegen, dann den Müll runterbringen. Was ich damit sagen will, damn: Lasst uns einfach erst mal ein Eis essen, scheißegal, was für ein Tag ist und was ansteht. Lasst uns erst mal ein Eis essen und dann weitersehen.