Weisheit

Erörterung zum Thema Weisheit

von  loslosch

Quid est sapientia? Semper idem velle atque idem nolle (Seneca, um die Zeitenwende bis 65 n. Chr.; Epistulae morales). Was heißt Weisheit? Stets dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen.

Gedacht ist hier zuerst an den gleichbleibenden Charakter, die Verlässlichkeit. Das Gegenteil wäre: täglich seine Überzeugungen wechseln wie ein Wäschestück.

Der Spruch besagt jedoch nicht, dass der Mensch seine Meinungen und Ansichten zeitlebens unverändert lässt. Erfahrungen bewirken Lernprozesse, an denen Überzeugungen überprüft, ggf. folgerichtig modifiziert werden. Am Ende können (nicht: müssen) daraus neue Erkenntnisse, Lebenseinstellungen resultieren. Weisheit, dieses alte Wort, geht ja in seiner ursprünglichen Bedeutung auf "etwas wissen" zurück.

Von Goethe ist der Gedanke überliefert, wer seine Weltsicht und die Summe seiner Überzeugungen im Laufe seines Lebens nicht ändere, der sei in sich erstarrt, verkrustet.

Hätte Seneca erkennen können und darlegen sollen. Sapientia geht zurück auf sapiens (weise) und sapio, sapere (klug, weise sein). Bekanntlich wird man aus Erfahrung klug.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (31.08.10)
Zwei Stellen aus der Komödie "Kunst" von Yasmina Reza:

Marc: Ich bin zu empfindlich, ich bin zu nervös, ich sehe die Dinge zu vordergründig ... Mir fehlt einfach die Gelassenheit, wenn du so willst.

Serge: Lies Seneca.

Marc: Ach. Siehst du, jetzt sagst du zum Beispiel "lies Seneca" zu mir, und das könnte mich zur Raserei bringen. Ich wäre imstande, auszuflippen, ganz einfach, weil du im Verlaufe dieses Gesprächs zu mir sagst "lies Seneca!"
Das ist doch absurd!

Serge: Nein. Nein, das ist nicht absurd.

Marc: Ach nein?

Serge: Nein, weil du festzustellen glaubst ...

Marc: Ich habe nicht gesagt, daß ich ausflippe ...

Serge: Du hast gesagt, du könntest ...

Marc: Ja, ja, ich könnte ...

Serge: Du könntest ausflippen, und ich verstehe das. Weil du glaubst, in diesem "lies Seneca" etwas Selbstgefälliges entdecken zu können. Du sagst zu mir, daß dir die Gelassenheit fehlt, und ich antworte dir "lies Seneca". Das ist gemein!

Marc: Nicht wahr!

Serge: Abgesehen davon stimmt es wirklich, daß dir die Gelassenheit fehlt, denn ich habe nicht gesagt "lies Seneca!", sondern "lies Seneca".

Marc: Das ist richtig. Das ist richtig.

Serge: Du hast keinen Humor, Marc. Du hast wirklich keinen Humor...

[Einige Zeit später, als Yvan die Freundesrunde komplettiert und Serge's Seneca-Buch vom Boden aufhebt…]

Serge: Du hast abgenommen.

Yvan: Natürlich. Ich habe vier Kilo abgenommen. Nur aus Angst... "Vom glücklichen Leben", genau das brauche ich! Was sagt er?

Marc: Ein Meisterwerk.

Yvan: Ach was? ...

Serge: Er hat es nicht gelesen.

Yvan: Ach so!

Marc: Nein, aber Serge hat mir vorhin gesagt, "ein Meisterwerk".

Serge: Ich habe "Meisterwerk" gesagt, weil es ein Meisterwerk ist.

Marc: Ja, ja.

Serge: Es ist ein Meisterwerk.

Marc: warum braust du gleich auf?

Serge: Du willst mir offenbar unterstellen, daß ich alle naselang "Meisterwerk" sage.

Marc: Keineswegs ...

Serge: Du sagst das mit einem gewissen spöttischen Ton ...

Marc: Aber keineswegs!

Serge: Doch, doch, "Meisterwerk" in einem Ton ...

Marc: Der ist doch verrückt! Keineswegs ... Du hingegen hast gesagt, du hast "äußerst modern" hinzugefügt.

Serge: Ja. Na und?

Marc: Du hast "äußerst modern" gesagt, als sei modern das Nonplusultra des Kompliments. Als könne man, wenn man von etwas spricht, nichts Höheres, nichts endgültig Höheres sagen als "modern".

Serge: Na und?

Marc: Na und, nichts. Außerdem habe ich, wie du bemerkt haben wirst, das "äußerst" nicht erwähnt ... "Äußerst modern!" ...

Serge: Du suchst wohl heute Streit mit mir.

Marc: Nein. ...

Yvan: Ihr werdet euch doch nicht anschnauzen wollen, das wäre wirklich die Höhe!

Serge: Findest du es nicht außergewöhnlich, daß ein Mann, der vor fast zweitausend Jahren geschrieben hat, immer noch aktuell ist?

Marc: Doch. Doch, doch. Das gehört eben zum Wesen der Klassiker.

Serge: Eine Frage von Wörtern.

...

 loslosch meinte dazu am 31.08.10:
De vita beata las ich als 20-jähriger - auf deutsch! Goldmann-Taschenbuch, meine ich. Irgendwo schrieb er vom tausendfachen Mord bei der Triebabfuhr. Seneca ohne den moralischen Zeigefinger wäre heute noch lesbar. Die Römer bekamen wohl schon damals beim Lesen einen moralischen Koller. Lothar
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