Widersprüchliche Handlungen

Persiflage zum Thema Harmonie

von  loslosch

Irascendum non esse magister irascundissimus disputat (Seneca, um die Zeitenwende bis 65 n. Chr.; Epistulae morales). Dass man nicht zürnen darf, erörtert der Lehrer höchst zornig.

Ironie aus der Feder Senecas ist eine Rarität. Dieses in sich widersprüchliche Phänomen ist von zeitlos gültiger Evidenz. Auftritt eines Gymnasiallehrers anno 1962, authentisch berichtet, der wie ein Rohrspatz schimpft und brüllt: "Ich will ja nicht laut werden!"

Weniger harmlos das ebenfalls von erster Hand belegte Ereignis aus dem Jahr 1930: Ein schon etwas ergrauter Gymnasiallehrer, damals noch mit dem schönen alten Titel Professor (nicht in Österreich, sondern im schönen Westerwald), benimmt sich vor seinen Schülern der Unterprima höchst seltsam. Scheinbar ohne Motivation schlägt er in rhythmischer Folge, um Ruhe bittend, mit der Faust aufs Pult. Die Lösung des Problems liefert der Herr Professor höchst selbst - indem er einmal versehentlich unkoordiniert flatuliert.

Homo sum. Humani nil a me alienum puto (Terenz). Ich bin ein Mensch. Nichts Menschliches ist mir fremd. Sit illi terra levis (Variante zu einer römischen Grabinschrift). Die Erde sei ihm leicht. Ja, diesem Herrn des Jahrgangs 1872.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (31.08.10)
Zwei Stellen aus der Komödie "Kunst" von Yasmina Reza illustrieren, wie der 'Lehrer' (Serge) am Ende selbst zum Zornigen wird:

Marc: Ich bin zu empfindlich, ich bin zu nervös, ich sehe die Dinge zu vordergründig ... Mir fehlt einfach die Gelassenheit, wenn du so willst.

Serge: Lies Seneca.

Marc: Ach. Siehst du, jetzt sagst du zum Beispiel "lies Seneca" zu mir, und das könnte mich zur Raserei bringen. Ich wäre imstande, auszuflippen, ganz einfach, weil du im Verlaufe dieses Gesprächs zu mir sagst "lies Seneca!"
Das ist doch absurd!

Serge: Nein. Nein, das ist nicht absurd.

Marc: Ach nein?

Serge: Nein, weil du festzustellen glaubst ...

Marc: Ich habe nicht gesagt, daß ich ausflippe ...

Serge: Du hast gesagt, du könntest ...

Marc: Ja, ja, ich könnte ...

Serge: Du könntest ausflippen, und ich verstehe das. Weil du glaubst, in diesem "lies Seneca" etwas Selbstgefälliges entdecken zu können. Du sagst zu mir, daß dir die Gelassenheit fehlt, und ich antworte dir "lies Seneca". Das ist gemein!

Marc: Nicht wahr!

Serge: Abgesehen davon stimmt es wirklich, daß dir die Gelassenheit fehlt, denn ich habe nicht gesagt "lies Seneca!", sondern "lies Seneca".

Marc: Das ist richtig. Das ist richtig.

Serge: Du hast keinen Humor, Marc. Du hast wirklich keinen Humor...

[Einige Zeit später, als Yvan die Freundesrunde komplettiert und Serge's Seneca-Buch vom Boden aufhebt…]

Serge: Du hast abgenommen.

Yvan: Natürlich. Ich habe vier Kilo abgenommen. Nur aus Angst... "Vom glücklichen Leben", genau das brauche ich! Was sagt er?

Marc: Ein Meisterwerk.

Yvan: Ach was? ...

Serge: Er hat es nicht gelesen.

Yvan: Ach so!

Marc: Nein, aber Serge hat mir vorhin gesagt, "ein Meisterwerk".

Serge: Ich habe "Meisterwerk" gesagt, weil es ein Meisterwerk ist.

Marc: Ja, ja.

Serge: Es ist ein Meisterwerk.

Marc: warum braust du gleich auf?

Serge: Du willst mir offenbar unterstellen, daß ich alle naselang "Meisterwerk" sage.

Marc: Keineswegs ...

Serge: Du sagst das mit einem gewissen spöttischen Ton ...

Marc: Aber keineswegs!

Serge: Doch, doch, "Meisterwerk" in einem Ton ...

Marc: Der ist doch verrückt! Keineswegs ... Du hingegen hast gesagt, du hast "äußerst modern" hinzugefügt.

Serge: Ja. Na und?

Marc: Du hast "äußerst modern" gesagt, als sei modern das Nonplusultra des Kompliments. Als könne man, wenn man von etwas spricht, nichts Höheres, nichts endgültig Höheres sagen als "modern".

Serge: Na und?

Marc: Na und, nichts. Außerdem habe ich, wie du bemerkt haben wirst, das "äußerst" nicht erwähnt ... "Äußerst modern!" ...

Serge: Du suchst wohl heute Streit mit mir.

Marc: Nein. ...

Yvan: Ihr werdet euch doch nicht anschnauzen wollen, das wäre wirklich die Höhe!

Serge: Findest du es nicht außergewöhnlich, daß ein Mann, der vor fast zweitausend Jahren geschrieben hat, immer noch aktuell ist?

Marc: Doch. Doch, doch. Das gehört eben zum Wesen der Klassiker.

Serge: Eine Frage von Wörtern.

...

 loslosch meinte dazu am 31.08.10:
Jetzt erinnere ich mich wieder an Reza, die Sarkozy damals im Wahlkampf begleitete, laut SPIEGEL.

Mein verstorbener Onkel, Jg. 1912, erzählte mir die Geschichte vom Gym.- Prof. mit Blähungen. Lothar
(Antwort korrigiert am 31.08.2010)
Graeculus (69)
(13.07.17)
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 loslosch antwortete darauf am 14.07.17:
nebenbei: dem prof., jg. 1872, durfte ich als primaner ein GT-geschenk überbringen. ich trug als einziger in der klasse, wo der direx gerade unterrichtete, einen gedeckten anzug und so kam ich zu dieser ehre.
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