Tunnelblick

Roman zum Thema Aggression

von  Mutter

Die meisten Frauen sind vielleicht Zwanzig, Mitte Zwanzig. Aber nicht ausschließlich – manche von ihnen sehen deutlich älter aus. Als ich den zweiten Packen herausnehme, dauert es nicht lange, bis ich auf das Bild von Luisa starre.
Sie sieht verlegen aus, lächelt aber leicht. Sie steht seitlich zur Kamera, mit nacktem Oberkörper. Mit der rechten Hand verdeckt sie ihre Brust, mit der linken hält sie sich die Haare.
Das Foto zu sehen macht ganz viele Dinge gleichzeitig mit mir: Ich verspüre eine unendliche Sehnsucht, Luisa wiederzusehen, noch einmal dieses Lächeln, das ich so gut kenne, auf ihren Lippen entstehen zu sehen. Gleichzeitig steigt ein heulender Schmerz in mir auf, der dazu führt, dass ich kaum Luft bekomme. Und mir wird schlecht. Der Gedanke, dass sich meine Luisa vor diesem Widerling Wedel ausgezogen hat, sich von ihm hat fotografieren lassen.
Fassungslos starre ich auf all die Fotos, die verstreut auf dem Boden liegen, die ich noch in der Hand halte und die sich noch ordentlich gestaffelt in der Kiste befinden. Frage mich, ob ich auch die anderen dort finden werden – Martina Hauptmann und die Frauen aus Hamburg. Und ganz langsam und leise schleicht sich die Frage in mein Hirn, ob all diese Frauen Luisas Schicksal geteilt haben. Hat Wedel all diese Menschen umgebracht? Abgeschlachtet?
Ich würde mich gerne übergeben, um die Übelkeit loszuwerden, aber ich fürchte, das kann ich nicht. Mehr als ein trockenes Würgen bringe ich nicht heraus. Alles kommt mir so unwirklich vor – reflexartig sehe ich zur Tür. In  einem schlechten Horrorfilm würde die Tür jetzt aufgehen und Wedel hereinkommen. Um mich auch umbringen. Und stattdessen würde ich ihm den Schädel einschlagen, denke ich mit Genugtuung. Beuge mich nach vorne, um die Brechstange zu ergreifen. Die Taschenlampe stecke ich in meine Jackentasche, greife dafür mit der Linken den Stapel Polaroids. Luisa liegt obenauf.

Gedämpft höre ich die Klingel hinter der Tür und lasse den Knopf los. Da ich mir selbst nicht traue, mich zurückzuhalten, habe ich die Brechstange wieder hinten in den Gürtel gesteckt. An der linken Hand spüre ich, wie die scharfen Ecken der Bilder sich in meine Handfläche bohren. 
Wedel macht auf. Bevor er reagieren kann, trete ich gegen die Tür. Sie erwischt ihn am Körper, aber weil er die Hand davor hatte, bleibt sein Gesicht verschont. Er stolpert nach hinten, ich setze nach. Gerade als er sich wieder fängt, schlage ich ihm ohne Ansatz mit der Rechten ins Gesicht. Sein Kopf zuckt zurück, ich kike ihm mit dem Spann außen an den Oberschenkel - direkt über dem Knie. Während ihm die Beine wegknicken und er nach vorne fällt, reiße ich das Knie hoch. Benommen schlägt er auf dem Boden auf.
Ich drehe mich um und schließe die Tür. Der Hausflur ist immer noch dunkel. Sieht nicht so aus, als sei unsere kleine Auseinandersetzung von irgendjemandem bemerkt worden. Wedel stöhnt und rollt sich auf die Seite. Aus Mund und Nase läuft Blut – sieht so aus, als sei die Lippe geplatzt.
„Waff woll daff?“, will er wissen und blubbert dabei eine Mischung aus Rotz und Blut aus. Robbt ein Stück von mir weg.
Als er die Tür aufgemacht hat, habe ich mich gefühlt, als würde in mir drinnen etwas abbrennen. Als müsste ich diese wütende Energie umsetzen. Jetzt ist das Gefühl weg, in mir drinnen ist nur Ruhe. Und eine Kälte, die mich selbst erstaunt. Ich nehme mich selbst wie mit Abstand wahr, als würde ich mich von außen dort im Flur beobachten. Spüre das Bedürfnis, die Brechsteige  zu ziehen und auf Wedel einzuschlagen. Ihm das bereits ramponierte Gesicht noch weiter zu zerstören – so lange auf ihn einzudreschen, bis er mit einem letzten Zucken stillliegt. Und warum auch nicht? Hat er nicht mit der gleichen Kaltblütigkeit Luisa umgebracht? Und die anderen?
„Waff hab iff gemacht?“
Ich will, dass er die Schnauze hält, unterdrücke aber den Wunsch, ihn zu treten. Ich lehne mich über ihn und halte ihm die Polaroids hin.
„Ssscheiffe!“, murmelt er.
„Was hast du mit ihr gemacht, du dumme Drecksau?“, brülle ich ihm ins Gesicht. Er sieht verängstigt zu mir hoch, setzt zu einer Erklärung an. Sein Genuschel ist nur schwer zu verstehen - mit zusammengezogenen Augenbrauen konzentriere ich mich, um zu verstehen, was er sagt.
„Es sind nur Fotos. Bevor ich sie gestochen habe“, stöhnt er. Wischt sich hilflos mit dem Handrücken über die Lippen, betrachtet fassungslos das Blut darauf.
„Wofür?“, will ich wissen. Meine Stimme klingt flach vor unterdrückter Wut.
„Sind Jungfrauen …“ Der Rest geht im Geblubber unter.
„Was für Jungfrauen?“ Ich verstehe nicht, was er meint.
In seiner zerschlagenen Visage bildet sich tatsächlich so etwas wie ein Lächeln. „Die Tattoos. Die Haut ist … jungfräulich.“ Er spuckt aus. „An dein erstes Tattoo erinnerst du dich länger als an den ersten Fick.“ Mit einem Stöhnen dreht er den Kopf, um mich anzusehen. Zeigt mir ein blutiges Grinsen. „Der erste Fick ist meistens Scheiße. Die erste Tinte ist der Hammer. Mich vergisst so eine Olle nie wieder“, stellt er triumphierend fest.
Ich  gehe etwas in die Knie und hämmere ihm die rechte Faust voll aus der Schulter auf die Schläfe. Sein Schädel prallt auf dem Parkettboden auf, liegt dann still.
„Arrrrrrgh!“, brülle ich und hämmere meine Faust gegen die Raufasertapete des Flurs, während ich aus den Knien hochkomme. Den Schmerz in den Knöcheln spüre ich kaum.
Ich muss meine Aggression wie ein wildes Tier zügeln – dabei wäre es so einfach, sie von der Kette zu lassen. Langsam setze ich meinen Fuß auf Wedels Hals, ohne Druck auszuüben. Könnte dem Penner einfach das Genick brechen – würde das jemanden stören? Würde den jemand vermissen?
Ich könnte mir vorstellen, dass jemand wie Dombrowski mir sogar insgeheim gratulieren würde. Wehmeier sicher nicht – der ist zu korrekt für so etwas. Und der Wissinger wäre vermutlich sauer - wegen der verpassten Gelegenheit. Karriere.
Aber ich trete nicht zu. Nehme meinen Fuß wieder herunter, ohne Wedel fertigzumachen. Ich schätze, dafür bin ich nicht Manns genug. Nicht kaputt genug – je nachdem, wie man’s nimmt. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich inzwischen meine Zweifel daran habe, ob er nicht möglicherweise die Wahrheit sagt. Und nichts weiter als ein dummer Perverser ist. Das soll jemand anderes entscheiden – ich habe genug von dem Wichser.
Mit einem letzten Blick auf den Bewusstlosen lasse ich die Polaroids fallen – die meisten knallen zu meinen Füßen auf das Parkett, aber manche verdrehen sich in der Luft und landen weiter weg oder auf ihm. Eigentlich würde ich Luisas Bild gerne mitnehmen – jede Spur von ihr bei Wedel auslöschen. Aber vielleicht ist es für die Bullen wichtig.
Im Rausgehen hole ich mein Handy raus und krame die Karte von Wehmeier aus meiner Hosentasche. Ich bin draußen im Flur, als es bei ihm klingelt. Mit einem Ruck ziehe ich die Wohnungstür hinter mir zu und gehe die Treppe im Dunkeln hinunter.
„Wehmeier hier.“ Ich überlege wie es sein muss, ein Handy zu haben, auf dem sich zu jeder Tag- und Nacht-Zeit Zeugen, Täter und Verdächtige melden können, um einem etwas zu toten Menschen zu erzählen.
„Luca Monteleone hier. Ich habe was für Sie.“
Er antwortet nicht, aber ich kann hören, wie er scharf die Luft zwischen ein Zähnen einsaugt.
„Der Tätowierer, bei dem sich Luisa stechen lassen wollte.“ Ich nenne ihm die Adresse. Fahre fort: „Sie sollten sich beeilen. Momentan ist er noch unpässlich – ich weiß aber nicht, wie lange.“
„Ich schicke eine Streife vorbei. Was haben Sie mit ihm gemacht?“
„Nichts. Er sieht so aus, als sei er eine Treppe hochgefallen.“
„Monteleone, nicht nur, dass Sie unsere Ermittlungen behindern, Sie machen sich auch noch der Körperverletzung strafbar!“ Ich bin erstaunt, wie laut er werden kann. Er scheint wirklich aufgebracht zu sein.
„Seien Sie froh, dass ich Sie angerufen habe, Wehmeier, und nicht Ihren Hamburger Kollegen. Und hören Sie auf, mir Vorträge zu halten – ich habe nichts gemacht. Sammeln Sie Wedel ein und machen Sie Ihre Arbeit, in Ordnung? Dann müssen Sie sich auch nicht mehr mit mir befassen …“ Ich fühle mich plötzlich müde und ausgelaugt. Will das Gespräch nur noch beenden. Wehmeier sieht offenbar ein, dass es wenig Sinn macht, sich mit mir am Telefon über mögliche Gesetzesübertritte zu streiten. Wir beenden das Gespräch mit einer höflichen Verabschiedung.
Draußen hocke ich mich auf den Bock und warte auf die Bullen. In Situationen wie diesen wünsche ich mir, ich hätte irgendwann mal mit dem Rauchen angefangen – nur, um die Nerven zu beruhigen. Dirty würde mir den Arsch versohlen, wenn ich jemals mit dem Mist anfangen würde, denke ich mit einem Lächeln.
Sobald die Streife vor dem Haus hält, stumm aber mit Blaulicht, trete ich die Kiste an und fahre die Skalitzer runter. Tiefer in das Herz von Kreuzberg – zurück zu Manu.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Melodia (15.07.10)
"Wir beenden das Gespräch mit eier höflichen Verabschiedung."

da fehlt ein "n".... und so langsam wird luca wirklich zum leone!^^

lg

 Mutter meinte dazu am 15.07.10:
:)

Oh ja, danke ...
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram